Jede:r Zweite von uns ist chronisch krank. Sprechen wir darüber. In insgesamt acht Podcastfolgen geht es um die Multiple Sklerose. Wir führen Sie durch jede Phase der Krankheit, damit Sie immer gut informiert sind und heute in der zweiten Episode zu diesem Thema geht es um die Symptome und Formen. Was sind zum Beispiel die ersten Anzeichen für eine Multiple Sklerose? Welche Symptome zeigen sich fast immer und wie häufig treten Schübe auf? Willkommen beim Podcast Chronisch Mensch.

Dr. Kai Wohlfahrt Chefarzt Neurologie Halle

Dr. Kai Wohlfahrt

Chefarzt der Klinik für Neurologie am BG-Klinikum Bergmanntrost Halle

Transkript der Folge „Folgen und Symptome von MS“

Mario D. Richardt: In dieser Episode wollen wir erfahren, was die typischen Symptome einer Multiplen Sklerose sind, aber gibt es überhaupt die typischen Symptome? Schließlich heißt es doch die Krankheit der 1.000 Gesichter. Aufklärung gibt es nun von Privatdozent Dr. Kai Wohlfarth. Er ist der Chefarzt der Klinik für Neurologie am BG Klinikum Bergmannstrost in Halle. Hallo Dr. Wohlfarth. 

Dr. Kai Wohlfarth: Hallo, Herr Richardt.   

Mario D. Richardt: Ich freue mich, dass Sie wieder mit dabei sind und ich falle gleich mal mit der Tür ins Haus. Heißt es etwa 1.000 Gesichter bedeuten auch 1.000 mögliche Symptome? 

Dr. Kai Wohlfarth: Ja, 1.000 ist vielleicht übertrieben, aber es ist eine ganz große Vielzahl, ein bunter Blumenstrauß, der uns dann vor Herausforderungen stellt, weil natürlich an unterschiedlichen Bereichen des Nervensystems solche Entzündungsvorgänge stattfinden können. Und dann haben wir natürlich ganz unterschiedliche Auswirkungen und unterschiedliche Beschwerden zu erwarten. 

Mario D. Richardt: Lässt sich die Multiple Sklerose deshalb auch so schwer erkennen, weil die Symptome so breit gefächert sind? 

Dr. Kai Wohlfarth: Richtig, sie sind breit gefächert. Es sind überwiegend junge Leute betroffen, die Betroffenen wenden sich natürlich primär an den Hausarzt und der Hausarzt sucht natürlich in so einem jungen Alter eher nach verschiedenen anderen, vielleicht auch behandelbaren Erkrankungen und denkt nicht immer primär an Multiple Sklerose. 

Mario D. Richardt: Was sind denn so die ersten Anzeichen einer MS-Erkrankung, was kann es sein? 

Dr. Kai Wohlfarth: Also bei jüngeren Betroffenen haben wir eher so einen monosymptomatischen Beginn. Das heißt, wir haben eher ein Symptom. Was imponiert, sind zum Beispiel Sehstörungen im Bereich des Auges, also neben der Visusminderung, auch die Augenbewegungsstörung. Bei jüngeren kämen, neben den Störungen im Bereich des Auges, vielleicht auch noch Gefühlsstörungen oder ein Missempfinden hinzu. Seltener sind dort Lähmungserscheinungen zu finden. Bei älteren Betroffenen ist das ein eher komplexeres Bild. Da haben wir doch schon mal Lähmungserscheinungen und Sensibilitätsstörungen, also mit Taubheit aber auch ein Kribbeln kann auftreten. 

Mario D. Richardt: Und wenn natürlich dann eine junge Person zum Arzt geht, zum Hausarzt, der wird wahrscheinlich auch erst mal tippen, dass irgendwas mit Borrelien vorliegt oder ein Schlaganfall, der es sein kann. Das sind ja wirklich so unterschiedliche Symptome, auch was das noch alles sein kann. 

Dr. Kai Wohlfarth: Richtig. Man muss natürlich dann an die Differenzialdiagnosen denken bei einer Multiplen Sklerose. Das heißt, der Hausarzt denkt wahrscheinlich auch an andere entzündliche Erkrankungen, die wir haben. Differenzialdiagnosen spielen eine große Rolle. Was kann es denn alles noch sein? Eigentlich müsste man sagen, die, wenn man an die Multiple Sklerose denkt, ist als klinische Diagnose gar nicht so schwer zu stellen. Dennoch fällt es den Hausärzten schwer und wir haben dann verschiedene andere Diagnosen, nämlich Differenzialdiagnosen, die auftreten können. Das fängt bei HI-Virus-Betroffenheit an bis hin zu Borrelien oder der Lyme-Krankheit, Störungen im Vitamin B12 Stoffwechsel, also ernährungsbedingte Störungen, anderen Erkrankungen im zentralen Nervensystem, wie auch Tumorerkrankungen, die dann erst mal diagnostiziert werden und es gibt natürlich auch Missbildungen im zentralen Nervensystem, die angeschuldigt werden können bis hin zu ja, pharmakologisch, toxikologischen Erkrankungen, was es natürlich nicht unbedingt beim Jugendlichen ist. Später, wenn man Medikamente nimmt, könnten natürlich auch diese zu ähnlichen Erscheinungen führen. Beim Jugendlichen könnten natürlich Drogen eine gewisse Rolle spielen, die das dann maskieren. Wo man denkt, Sehstörungen nach einem durchtanzten Wochenende, das könnte daran liegen oder vielleicht an der Einnahme von verschiedenen Drogen, Amphetaminen, Methamphetamin, die eine Rolle spielen können und dann wird die Diagnose eben erst mal nicht gestellt oder nicht dran gedacht. 

Mario D. Richardt: Und der Hausarzt kann ja nicht immer jeden Patienten gleich zum Neurologen schicken. 

Dr. Kai Wohlfarth: Das ist richtig. Also der Neurologe kann nicht immer sofort zur Verfügung stehen, sondern das ist so, dass man dann einen Termin braucht und das kann dann Wartezeiten bedingen. Für den Neurologen ist die Diagnose, glaube ich, relativ einfach, also wenn der Betroffene einmal beim Neurologen sitzt, ist das für uns schon eine einfache Diagnosestellung. 

Mario D. Richardt: Tritt zunächst immer ein Symptom auf oder kommt dann immer mehr dazu? Sie haben vorhin schon gesagt, also bei jüngeren Menschen ist es meistens monosymptomatisch. 

Dr. Kai Wohlfarth: Genau. 

Mario D. Richardt: Oder ist es auch so, dass wirklich ganz viel aufeinanderprallen kann? 

Dr. Kai Wohlfarth: Es können natürlich auch andere Symptome oder Symptomkomplexe auftreten. Ich habe jetzt nur das Beispiel genannt, dass Jüngere eher durch ein Symptom auffallen, Ältere durch so ein Symptomkomplex, aber das ist auch nur eine statistische Angabe. Und dann gibt es natürlich Symptome, die eher in der Frühphase auftreten, die sich dann im weiteren Verlauf auch verändern oder verstärken, meistens verstärken. Wir haben dann in der Spätphase natürlich zum Teil andere Symptomkomplexe. Da sind die Sehstörungen aus der Frühphase natürlich weiterhin vorhanden, aber es kommt dann eben zum Beispiel noch häufig zu Blasen-, Mastdarmstörungen, Sexualfunktionsstörung, gerade bei jungen Menschen spielt das ja eine ganz entscheidende Rolle, Schmerzen und vor allem psychische Störungen sowie kognitiven Störungen, also Gedächtnisstörungen, die dann erst im späteren Verlauf imponieren. 

Mario D. Richardt: Die Potenzstörungen bei jungen Männern können also relativ frühzeitig auch schon auftreten? 

Dr. Kai Wohlfarth: Das kann relativ frühzeitig auftreten. Das wird natürlich dann übersehen, also es wird, das ist eins von den Symptomen, die auch unsichtbar bleiben. Sagen wir, die werden auch selten besprochen, also Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktionsstörung, also im Bereich des autonomen Nervensystems. Die werden natürlich selten angesprochen, die sind einem selbst unangenehm. Unglücklicherweise fragt der Hausarzt auch nicht immer nach solchen Beschwerden und von sich aus spricht der Betroffene selten darüber. Selbst Neurologen fällt es schwer diesen Symptomkomplex anzusprechen, aber es sollte auf jeden Fall zu einer guten Befunderhebung und Anamnese gehören, auch nach diesen Störungsbildern zu fragen. 

Mario D. Richardt: Welche Symptome zeigen sich denn grundsätzlich immer? Gibt es so was, dass es heißt, die Augen sind immer betroffen? 

Dr. Kai Wohlfarth: Nein, das kann man nicht sagen, die Augen sind häufig betroffen, aber es gibt nicht so diesen Blickfang, wo man sagt, dass, wenn dieses Symptom auftritt, ich die Diagnose Multiple Sklerose mit Sicherheit stellen kann. Also es ist, wie gesagt, ein buntes Bild., Es beginnt häufig mit den Augen und mit Sensibilitätsstörungen, Lähmungserscheinungen können hinzutreten und im weiteren Verlauf kommt dann eben noch ein ganz buntes Bild hinzu bis eben zum kognitiven Abbau, also fast so demenzähnlichen Krankheitsbildern im weiteren Verlauf. Aber das bedingt natürlich, dass man jahrelang eine entzündliche Aktivität im Gehirn hat. 

Mario D. Richardt: Also es ist schon so eine fortschreitende Krankheit, dass man sagen kann, vorne am Zeitstrahl ist ein Symptom und je länger man mit dieser Krankheit lebt, umso mehr Symptome und je stärker sind auch die Symptome, also das kommt dann noch hinzu? 

Dr. Kai Wohlfarth: Das klingt jetzt mal schlimm. Es könnte sein, ist aber nicht in jedem Fall so. Also entzündliche Aktivitäten im Gehirn können sich natürlich auch in Bereichen abspielen, die keine große Rolle für unsere Funktion spielen. Es gibt Betroffene, die haben eine Multiple Sklerose, aber ganz wenig Beschwerden. Und es kann dann auch 20, 30 oder 40 Jahre oder länger so anhalten. Also das ist kein so ganz einheitliches Bild. 

Mario D. Richardt: Wie viele der Erkrankten sind denn relativ symptomarm? 

Dr. Kai Wohlfarth: Ja, das kann man nicht sagen, also symptomarm. Wir wissen, dass es verschiedene Verlaufsformen gibt bei diesen Erkrankungen. Da ist der schubförmige Verlauf, da imponieren 80 bis 85 Prozent der Betroffenen im Krankheitsverlauf durch Schübe. Also der Beginn ist dann durch einen Schub definiert, wie gesagt, häufig übersehen oder, wenn, beim Hausarzt übersehen. Beim Neurologen sollte das nicht passieren. Das kann sich dann als Verlaufsform auch weiter darstellen, also schubförmig. Das heißt, wir haben Erkrankungssymptome über einen gewissen Zeitraum, die dann auch wieder zurückgehen. Nach mehreren Wochen ist das dann eigentlich auch vorbei, aber ein Teil dieser Betroffenen, wir sagen so sechs bis zehn Prozent, entwickeln dann einen sekundär progredienten Verlauf. Der kann dann so aussehen, dass wir Schübe haben, wo die Beschwerden, die neurologischen Dysfunktionen sich nicht wieder komplett zurückbilden. Es bleibt immer so eine Restsymptomatik übrig und dann kann diese Restsymptomatik natürlich beeinträchtigen, funktionell beeinträchtigend wirken und dann sprechen wir, wenn diese Schübe aufgesetzt sind, irgendwann von einem sekundär progredienten Verlauf. Zum Teil sind Schübe gar nicht mehr abgrenzbar. Das heißt, es ist so eine schleichende Verschlechterung. 

Mario D. Richardt: Also von einer Welle zur nächsten geht das so. 

Dr. Kai Wohlfarth: Zur nächsten bis hin, dass es eben gar nicht mehr mit Schüben abzugrenzen sind, sondern dass es schleichend eine Verschlechterung gibt. Es gibt dann noch diese primär progrediente Form, das heißt die Erkrankung beginnt von Beginn an schon mit einer schleichenden Verschlechterung. Da haben wir auch so eine Zahl Es sind ungefähr 10 bis 20 Prozent primär progredient, die damit beginnen. Da sind Schübe eigentlich nicht gut abgrenzbar. Also das ist so ein schleichender Prozess. 

Mario D. Richardt: Wie können Sie das als Neurologe anfangs bei der Diagnose differenzieren? Merken Sie gleich, welche Art der Erkrankung das ist? Welche Form? 

Dr. Kai Wohlfarth: Also der Neurologe kann das schon erst mal, glaube ich, sehr gut diagnostizieren. Das ist also kein Zauber, sondern das können wir sehr gut machen. Welche Verlaufsform das nimmt, ist natürlich eine Frage der Zeit. Also da gibt es zwar so ein paar Hinweisanzeichen, wo wir sagen, ja, das männliche Geschlecht ist meistens schwerer betroffen, also es ist zwar seltener, aber ist dann meist schwerer betroffen als zum Beispiel das weibliche Geschlecht. Als negativer prognostischer Faktor also. Also um die Frauen, die jetzt häufiger betroffen sind, mal ein bisschen herauszunehmen, braucht es tatsächlich die Zeitachse, um genau zu definieren, was für eine Verlaufsform wir hier vorliegen haben. Und wie gesagt, das kann sich auch wandeln, also aus der schubförmigen Verlaufsform kann sich dann eine sekundär progrediente Verlaufsform entwickeln. 

Mario D. Richardt: Dann kommen wir noch mal zu den Schüben zurück. Wie lange dauern diese Schübe an? Ddas wird wahrscheinlich immer unterschiedlich sein, und wie groß sind die Zeiträume zwischen den Schüben? Gibt es da irgendwie so, ja so einen Anhaltspunkt? 

Dr. Kai Wohlfarth: Das ist eine alles eine Frage der Definition. 

Mario D. Richardt: Ja. 

Dr. Kai Wohlfarth: Wir Neurologen sind ja eher auch theoretischer, würde ich nicht so sagen, wir sind auch ganz praktisch, aber wir haben natürlich eine sehr theoretische Disziplin und haben Schübe natürlich auch gut definiert. Wir haben gesagt, ein Schub ist eine neurologische Dysfunktion, die mindestens 24 Stunden anhalten muss. Das ist erst mal die Definition. Schübe bilden sich zurück, auch wenn man nichts tut. Sie bilden sich in der Regel in ein bis drei, maximal vier, manchmal auch acht Wochen zurück und der nächste Schub kann eigentlich dann auch erstmal gut abgegrenzt werden, sagen wir so nach 30 Tagen. So, aber es gibt natürlich innerhalb der 30 Tage auch manchmal Veränderungen innerhalb eines Schubes, sodass man von so einem Schubkomplex redet. Also so würden wir Neurologen das allgemein definieren. Wichtig ist 24 Stunden muss das Symptom anhalten, damit wir von einem Schub sprechen und der bildet sich innerhalb von mehreren Wochen zurück. 

Mario D. Richardt: Kann das auch mal passieren, dass zwischen den Schüben ein paar Monate oder vielleicht sogar ein Jahr Zeit ist? 

Dr. Kai Wohlfarth: Selbstverständlich. Also es gibt Betroffene, die haben einen Schub, alle paar Jahre. Natürlich gibt es auch Betroffene, die haben ein oder zwei Schübe pro Jahr, das variiert sehr. Aber auch da brauchen wir die Zeitachse, um zu gucken, wie viel das letztendlich sind und das kann sich auch im Verlauf der Zeit ändern. Also es kann auch sein, dass Betroffene alle paar Jahre einen Schub haben und dann nach fünf bis 10 Jahren plötzlich ein bis zwei Schübe pro Jahr bekommen, also das kann sein. In die andere Richtung ist die Entwicklung eher unwahrscheinlich. Also dass jemand viele Schübe zu Anfang hat und dann plötzlich keine mehr hat, das ist fast ausgeschlossen. 

Mario D. Richardt: Und in der nächsten Folge sprechen wir dann über die Diagnose, für diese Folge erst mal vielen Dank, Dr. Wohlfarth. 

Dr. Kai Wohlfarth: Vielen Dank.