Jede:r Zweite von uns ist chronisch krank. Sprechen wir darüber. In insgesamt acht Podcastfolgen geht es um die Multiple Sklerose. Wir führen Sie durch jede Phase der Krankheit, damit Sie immer gut informiert sind. In dieser sechsten Episode zu diesem Thema geht es um das Leben mit Multiple Sklerose. Willkommen beim Podcast Chronisch Mensch.

Dr. Frank Hoffmann Chefarzt Neurologie Halle

Dr. Frank Hoffmann

Chefarzt der Klinik für Neurologie im Krankenhaus Martha-Maria Halle-Dölau

Transkript der Folge „Leben mit Multipler Sklerose“

Mario D. Richardt: Wie sehr beeinträchtigt die Multiple Sklerose den Alltag? Wie sehr kann MS das Leben einschränken, den Job, das Liebesleben? Darüber spreche ich nun mit Dr. Frank Hoffmann, er ist der Chefarzt an der Klinik für Neurologie im Krankenhaus Martha-Maria Halle-Dölau. Schönen guten Tag, Dr. Hoffmann. 

Dr. Frank Hoffmann: Hallo, Herr Richardt.  

Mario D. Richardt: Dr. Hoffmann, wie hoch sind denn die Chancen, dass man trotz Multipler Sklerose eine hohe Lebensqualität erhalten kann? 

Dr. Frank Hoffmann: Die sind in der Tat gut, die Chancen. Also auch mit dieser Erkrankung kann man häufig auch sehr lange Zeit eine gute Lebensqualität erhalten. Natürlich gelegentlich mit Einschränkungen zum Beispiel durch einen Krankheitsschub oder auch durch bestimmte Symptome, aber im Grunde genommen ist das Ziel trotz der Erkrankung ein möglichst normales Leben führen zu können und das erreichen die meisten Patienten.  

Mario D. Richardt: Und das ist also aufgrund der modernen Therapien absolut möglich, heutzutage?  

Dr. Frank Hoffmann: Das ist absolut möglich, es ist absolut möglich familiär, beruflich oder auch im Bereich der Hobbys ein ganz normales Leben zu führen.  

Mario D. Richardt: Wenn Sie vielleicht von Ihrer Erfahrung mal herumkramen, wie viele Patienten haben denn auch nach langer Krankheit nur wenig Beschwerden?  

Dr. Frank Hoffmann: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil diese Patienten, die wenig Beschwerden haben häufig nicht das Krankenhaus aufsuchen. 

Mario D. Richardt: Die sind nicht bei Ihnen? 

Dr. Frank Hoffmann: Das ist eine schweigende Mehrheit. Ich würde sagen dreiviertel aller Patienten haben auf Dauer so eine Lebensqualität, dass die im Alltag vielleicht Kollegen oder Nachbarn gar nicht auffallen. Die haben sicherlich immer wieder auch Beeinträchtigungen durch Fatigue zum Beispiel oder Sensibilitätsstörungen oder so was, aber die können im normalen Leben und im normalen Alltag bestehen, ohne, dass die von außen erkennbar sind. Viele von diesen Betroffenen berichten auch von einer wirklich guten subjektiven Lebensqualität.  

Mario D. Richardt: Meistens ist es ja so, dass Betroffene sehr jung an der Krankheit erkranken. Also Sie haben es ja auch schon gesagt, Frauen zwischen 20 und 40 sind häufig davon betroffen. Wird dann aber MS im Alltag zwangsläufig schlimmer?  

Dr. Frank Hoffmann: Nein, glücklicherweise nicht. Es gibt keinen zwangsläufigen Verlauf. Natürlich kann es passieren, dass die Erkrankung im Laufe der Jahre schleichend an Schwere zunimmt und, dass Beschwerden sich verstärken. Es gibt aber durchaus auch einen nicht unerheblichen Teil von Betroffenen, bei denen sich die Erkrankung komplett stabilisiert und auch einen kleineren Teil von Betroffenen, bei denen es tatsächlich auch zu Verbesserungen kommen kann.  

Mario D. Richardt: Also kann man auch trotz MS ein hohes Lebensalter erreichen?  

Dr. Frank Hoffmann: Im Grunde genommen ist die Lebenserwartung nahezu die gleiche, wie bei Nichtbetroffenen. Es sind noch ein paar Jahre weniger, aber wenn man den Unterschied zum Beispiel in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen betrachtet, dann ist der größer als zwischen MS-Betroffenen und MS-Nichtbetroffenen. 

Mario D. Richardt: Wie sehr wird man denn im Alltag an die Krankheit erinnert? Klar, wenn es grad einen Schub gibt, dann besonders stark, aber zwischen den Schüben, merkt man da die Krankheit?  

Dr. Frank Hoffmann: Das ist in der Tat individuell sehr verschieden. Es gibt leider Betroffene, die natürlich auch auf Dauer unter Beschwerden leiden, zum Beispiel Gangstörungen, Blasenstörungen, Sexualfunktionsstörungen. Es gibt aber auch wieder andere, die sich über Jahre unbeeinträchtigt fühlen und vielleicht nur durch einen gelegentlich auftretenden Schub an die Erkrankung erinnert werden. Das kann man wirklich nicht verallgemeinern und das ist für jeden Betroffenen anders und kann sich natürlich auch im Lauf der Zeit verändern. 

Mario D. Richardt: Wie häufig stehen denn Arztbesuche und Therapien auf dem Kalender eines MS-Betroffenen?  

Dr. Frank Hoffmann: Wenn es sich um den schubförmigen Multiple Sklerose Verlauf handelt und eine Dauerimmuntherapie eingeleitet und erfolgreich ist, stehen etwa einmal im Quartal, also alle drei Monate, Arztbesuche an. MRT hatten wir schon gesagt, am Anfang jährlich, später zweijährig, möglicherweise dann bei gutem Verlauf auch noch größere Abstände, sodass man bei einem stabilen Verlauf mit einer Handvoll Arztbesuchen im Jahr auskommen kann.  

Mario D. Richardt: Wo können denn Betroffene Unterstützung bekommen und von wem?  

Dr. Frank Hoffmann: Betroffene können Unterstützung bekommen bei ihren behandelnden Ärzten natürlich, insbesondere auch bei ihren Neurologen. Man braucht für diese Erkrankung einen Neurologen, das ist der Facharzt, der speziell auch für die Multiple Sklerose auch ausgebildet und zuständig ist. Da gibt es auch wieder spezialisierte davon und man kann und sollte auch unbedingt Kontakt zu Selbsthilfeorganisationen aufnehmen und da ist die in Deutschland bewährte Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, die in jedem Bundesland Geschäftsstellen hat, die man auch im Internet findet, mit denen man auch telefonisch oder per Mail Kontakt aufnehmen kann. Warum ist die DMSG wichtig? Weil die seit vielen Jahren für die Betroffenen und auch von Betroffenen arbeitet und viel Erfahrung hat in vielen Fragen, die vielleicht nicht dem Arzt oder medizinisch so wichtig sind. Die Frage zum Beispiel, wie geht es weiter am Arbeitsplatz? Wem offenbare ich überhaupt, dass ich die Multiple Sklerose habe? Wann ist das sinnvoll, wann nicht? Was stehen mir für Hilfen zu im Schwerbehindertenrecht, seitens des Versorgungsamtes zum Beispiel? Wann hat es Sinn, einen Rentenantrag zu stellen? Wie geht es überhaupt weiter, wie leben andere Betroffene mit dieser Erkrankung? Was haben die für Strategien entwickelt? Was für Ratschläge kann ich daraus ableiten? Was gibt es Neues zu Therapieverfahren? Zu Prognose und, und, und, also es sind ganz viele Dinge, worüber man sich informieren kann und bei denen es auch häufig ergiebig und nützlich ist in den Austausch mit anderen Betroffenen zu kommen, weil man dann vielleicht auch schon sieht, dass andere schon viele Jahre mit dieser Erkrankung mit hoher Lebensqualität leben.  

Mario D. Richardt: Also den Kontakt zu Betroffenen, zu Selbsthilfegruppen gibt es dann über die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja. 

Mario D. Richardt: Jetzt haben Sie es auch schon angesprochen, wem sollte man überhaupt von der Krankheit erzählen? Würden Sie sagen, das ist auch völlig okay, wenn man mit den Arbeitskollegen offen umgeht?  

Dr. Frank Hoffmann: Eine ganz schwierige Frage. Hängt sehr vom Einzelfall und von der Betroffenheit ab, auch von der Arbeit, auch von der Stimmung und von der Art des Teams, in dem man arbeitet. Da will ich keinen vorschnellen Ratschlag geben. Auf alle Fälle finde ich, dass die näheren Angehörigen drüber Bescheid wissen sollten und auch offener Dialog folgen sollte. Am Arbeitsplatz ist es sehr individuell zu sehen, da muss man sich das gut überlegen.  

Mario D. Richardt: Gilt man denn als MS-Kranker als behindert? 

Dr. Frank Hoffmann: Nein, nicht automatisch. Nicht die Tatsache, dass man eine Multiple Sklerose hat, verursacht irgendeine Behinderung. Man gilt dann als behindert, wenn man eine Behinderung hat. Also wenn man eine Gehstörung hat, ist es vor dem Sozialrecht völlig unerheblich, ob die daran liegt, dass man sich das Bein gebrochen hat oder ob man eine Multiple Sklerose hat oder umgekehrt. Man kann auch trotz Multiple Sklerose völlig unbehindert sein.  

Mario D. Richardt: Wie viele MS-Betroffene haben denn die Möglichkeit, noch ganz normal arbeiten zu gehen?  

Dr. Frank Hoffmann: In jüngeren Lebensjahren ist das die große Mehrheit, also 80 Prozent aller MS-betroffenen jüngeren Menschen können Arbeit nachgehen, ihr Studium vollenden oder eine Arbeit aufnehmen.  

Mario D. Richardt: Und man sollte das auch machen. Also man sollte jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken und sagen: “Ne, ich will jetzt nichts mehr mit dem normalen Leben zu tun haben.”  

Dr. Frank Hoffmann: Unbedingt sollte man das machen. Man sollte alles machen, was man machen kann. Also mit dieser Erkrankung, ich sage das schon mal, darf man und soll man alles tun, was man kann und Arbeit, wenn man das kann, ist ein wichtiger Teil, auch zum Erwerb von Geld und Lebensqualität, auch Lebensinhalt, sozialen Kontakten und, und, und.  

Mario D. Richardt: Alles machen, was man kann, das heißt also auch Sport ist möglich ohne irgendwelche Einschränkungen?  

Dr. Frank Hoffmann: Genau, alles machen, was man kann. Natürlich wird man, wenn man jetzt Lähmungen in den Beinen hat, nicht unbedingt Laufsport betreiben oder so, aber, wenn man das nicht hat, dann darf man das und man darf auch jede andere Sportart betreiben. Also man darf mit Multiple Sklerose Fallschirm springen oder auch klettern oder tauchen, oder, mir fallen jetzt gerade keine anderen exotischen Sportarten ein, das ist alles möglich. Wenn man dieses Hobby schon hat, kann man das fortführen und wenn man es nicht hat, kann man es auch aufnehmen, sofern einem die Erkrankung das zulässt, ja?  

Mario D. Richardt: Wie viele der Patientinnen und Patienten haben denn mit Libidoverlust zu tun oder die Männer mit Potenzstörungen?  

Dr. Frank Hoffmann: Ja, ganz heikles Thema, was auch oft im Arztgespräch gar nicht so aufkommt oder umschifft wird, übrigens auch nicht nur bei MS-Patienten, aber es ist ein relevantes Thema. Libidoverlust oder ja, erektile Dysfunktion, ist ein relativ häufiges Symptom der Multiple Sklerose. Das ist wichtig, dass man das im partnerschaftlichen Gespräch auch anspricht. Da steckt nicht immer nur die organische Störung dahinter, also die Multiple Sklerose, häufig gibt es natürlich auch psychische Probleme, die Erektionen oder sexuelle Funktionen beeinträchtigen. Das muss man erst mal klären und dann ist es gut, wenn man auch offen drüber sprechen kann und das nicht irgendwie versteckt oder verbirgt. Die erektile Dysfunktion, wenn sie denn organisch ist, was bei der Multiple Sklerose vorkommt, kann man auch sehr gut behandeln. Es gibt verschiedene Medikamente, die kennt man auch von anderen, aus Anzeigen, aus dem Internet und so weiter.  

Mario D. Richardt: Die typischen Tabletten quasi helfen auch da? 

Dr. Frank Hoffmann: Die typischen Tabletten, ja.  

Mario D. Richardt: Welche Beobachtung haben Sie gemacht? Igeln sich Betroffene eher ein oder ist es so, dass sie offensiv Angebote annehmen?  

Dr. Frank Hoffmann: Ja auch wieder ganz unterschiedlich. Es gibt leider auch viele, die sich erst mal sehr zurückziehen und Informationen oder Gespräche über Multiple Sklerose erst mal abblocken. Glücklicherweise muss das nicht von Dauer sein. Manche öffnen sich dann auch, brauchen vielleicht auch die Zeit am Anfang. Es gibt aber auch durchaus Menschen, die tatsächlich offen damit umgehen und mit ihrer Umgebung, mit ihrer Familie, mit Ärzten und auch mit der MS-Gesellschaft zum Beispiel kommunizieren, sich da auch organisieren oder in Gruppen gehen zum Beispiel. Und man weiß, dass die unter dem Strich auch die bessere Lebensqualität haben.  

Mario D. Richardt: Worauf sollte man denn achten, bei der Ernährung? Sollte man jetzt auf Fleisch verzichten? Sollte man auf Zucker verzichten oder kann man ganz normal weiter essen?  

Dr. Frank Hoffmann: Ja, ein ganz spannendes Thema, Ernährung spielt ja in alle Lebensbereiche hinein. Vielleicht kann man es so zusammenfassen. MS-Patienten sollten sich gesund ernähren, abwechslungsreich, gesund, aber auch so, dass Essen Spaß macht, das essen, was schmeckt und nicht komplett unvernünftig ist, also ausgewogen, von allem was. Es muss nicht vegetarisch sein, es darf und soll auch auf keinen Fall irgendeine Extremdiät sein. Dass man auf irgendwas komplett verzichten muss, das ist nicht notwendig. MS ist keine Erkrankung, die durch die Ernährung behandelbar wäre, es sei denn, man schädigt sich durch sinnlose oder schädliche Ernährung zusätzlich zu MS.  

Mario D. Richardt: Heißt also zu viel Fast Food, zu viel Pizza, zu viel Döner, Hamburger und Pommes können schon dazu führen, dass dann auch Symptome sich verstärken? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, also Lifestylefaktoren spielen bei jeder Erkrankung eine Rolle. Wir hatten vorhin schon mal drüber gesprochen, dass auch Zigarettenrauchen ungünstig ist und natürlich ist auch ungünstig, wenn man Übergewicht oder Diabetes entwickelt oder Bluthochdruck. Alles Folgen von ungünstiger Ernährung.  

Mario D. Richardt: Gibt es denn was, was man als MS-Betroffener auf gar keinen Fall machen sollte? 

Dr. Frank Hoffmann: Verzweifeln wegen der Diagnose, weil das glücklicherweise nicht angemessen ist und Lebensqualität nimmt. Das sollte man auf gar keinen Fall machen. Über das Rauchen haben wir schon gesprochen, das ist aber ja ein gering ausgeprägter Faktor. Ansonsten fällt mir jetzt nichts ein, was MS-Patienten auf gar keinen Fall machen sollten.  

Mario D. Richardt: Dann danke ich Ihnen sehr herzlich, Dr. Hoffmann. 

Dr. Frank Hoffmann: Sehr gerne, Herr Richardt.