Jede:r Zweite von uns ist chronisch krank. Sprechen wir darüber. In insgesamt acht Podcastfolgen geht es um die Multiple Sklerose. Wir führen Sie durch jede Phase der Krankheit, damit Sie immer gut informiert sind. Heute in der vierten Folge zu diesem Thema geht es um die Therapie und Prognose. Willkommen beim Podcast Chronisch Mensch.

Dr. Frank Hoffmann Chefarzt Neurologie Halle

Dr. Frank Hoffmann

Chefarzt der Klinik für Neurologie im Krankenhaus Martha-Maria Halle-Dölau

Transkript der Folge „Therapie und Prognose von MS“

Mario D. Richardt: Nach der gesicherten Diagnose geht es an die Behandlung. Doch wie wird Multiple Sklerose behandelt? Welche unterschiedlichen Therapieformen gibt es? Und kann MS vielleicht sogar ausgebremst werden? Darüber spreche ich nun mit Dr. Frank Hoffmann, er ist der Chefarzt an der Klinik für Neurologie im Krankenhaus Martha-Maria Halle-Dölau, Hallo Dr. Hoffmann. 

Dr. Frank Hoffmann: Hallo, Herr Richardt. 

Mario D. Richardt: Das ist ja im Prinzip, das haben Sie mir grad vor dem Podcast erzählt, das MS-Zentrum in Sachsen-Anhalt. 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, wir sind MS Schwerpunktzentrum, zertifiziert von der deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft seit 15 Jahren, und haben eine größere Zahl von Patienten mit Multiple Sklerose in ambulanter und stationärer Behandlung. 

Mario D. Richardt: Und Sie machen Ihren Job auch schon sehr lange. 

Dr. Frank Hoffmann: Ich bin seit 28 Jahren hier Chefarzt und Multiple Sklerose ist mein Schwerpunkt. 

Mario D. Richardt: Und dazu kommt, dass Sie auch noch ein Standardwerk geschrieben haben, zum Thema Multiple Sklerose. 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, nicht alleine, sondern mit einer Vielzahl von Kollegen, aber ich bin Mitherausgeber und habe das Werk übernommen vom Rudolf Manfred Schmidt, der hier in Halle die Multiple Sklerose Forschung vorangebracht hat und auch das erste Standardlehrbuch geschrieben hat. 

Mario D. Richardt: Dann steigen wir mal ein ins Thema, Dr. Hoffmann. Meistens dauert es ja relativ lange, bis nach den ersten Symptomen die Diagnose gestellt werden kann. Wie wichtig ist es denn für den Verlauf der Krankheit, dass rasch mit der Therapie begonnen wird? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, leider dauert es oft länger, bis die Diagnose steht, das sagten Sie ja. Es ist früher nicht von großer Bedeutung gewesen, als wir noch keine wirksamen Therapien hatten. Glücklicherweise hat sich das ja komplett geändert, seit über 20 Jahren haben wir immer bessere, immer wirksamere Therapien und, wie immer im Leben, ist es so, wenn man früh etwas unternimmt gegen eine Erkrankung, wenn man eine Therapie früh einleitet, dann sind auch die Aussichten der Therapie am besten. Das heißt, je eher man beginnen kann, je eher die Diagnose steht, das ist ja die Voraussetzung für eine Therapie, desto besser sind die Aussichten und die Prognose für die Betroffenen. 

Mario D. Richardt: Aber es ist immer noch nicht möglich, komplett auf die Bremse zu treten, bei der Krankheit? 

Dr. Frank Hoffmann: Ich sage immer, wir haben für die Erkrankung keinen Rückwärtsgang. Das heißt Behinderungen oder Störungen, die eingetreten sind, sind in der Regel nicht mehr voll rückgängig zu machen aber wir haben immer wirksamere Bremsen und im Idealfall tatsächlich die Vollbremsung, also den Stillstand der Erkrankung zu erreichen. Das ist unser Therapieziel. 

Mario D. Richardt: Die Symptomatik habe ich schon mit Ihrem Kollegen Dr. Wohlfarth besprochen, aber wie geht es dann nach der Diagnose weiter? Muss man erst mal stationär ins Krankenhaus? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, die Erkrankung heißt ja im Volksmund auch die Erkrankung der 1.000 Gesichter und das liegt daran, dass sie so individuell ist. Nicht nur vom symptomatischen Bild her, also von den Beschwerden, die auftreten, sondern tatsächlich auch von der individuellen Situation, in der jemand ist. Gelegentlich muss man ins Krankenhaus, immer dann, wenn komplizierte Untersuchungen die Diagnose noch sichern sollen, aber auch, wenn komplizierte Therapien anstehen. Es gibt ja unterschiedliche Therapieprinzipien für diese Erkrankung. Die eine Therapie ist die sogenannte Schubtherapie. Das heißt, wenn akute Symptome auftreten, neu auftreten, dann sollte man mit einer Schubtherapie dagegen vorgehen, welche auch wieder möglichst frühzeitig beginnen sollte. Und diese Schubtherapie kann mit Kortison erfolgen, in relativ hoher Dosierung, was manchmal erforderlich macht, dass man das stationär macht, weil Kortison eben auch Nebenwirkungen haben kann. Dazu zählen Blutdruckentgleisungen, Blutzuckerentgleisungen, auch psychische Auffälligkeiten et cetera und insbesondere, wenn man diese Therapie das erste Mal macht, empfiehlt es sich, das stationär zu tun. Dann kann es sein, dass Kortisonbehandlungen aus irgendwelchen Gründen nicht durchgeführt werden können, zum Beispiel in der frühen Schwangerschaft oder bei Unverträglichkeiten, bei Zuckerkrankheit et cetera. Und dann gibt es alternativ die Therapiemöglichkeit der Blutwäschebehandlung und die wird in aller Regel tatsächlich stationär durchgeführt, weil das ein aufwändiges und langes Verfahren ist. Es ist relativ gut verträglich, hat wenig Risiken, aber ist aufwändig und auch die Gerätschaften stehen ambulant kaum zur Verfügung. 

Mario D. Richardt: Die Blutwäsche ist im Prinzip dann aber schon das Letzte, was dann nötig ist, wenn vorher alles andere nicht angeschlagen hat? 

Dr. Frank Hoffmann: Die Blutwäschebehandlung ist die Alternative, wenn die Kortisonbehandlung, die in 90 Prozent der Fälle eingesetzt wird, entweder nicht eingesetzt werden kann, aus Gründen der Verträglichkeit oder der Sicherheit, oder wenn die erfolgt ist und nicht ausreichend erfolgreich war. 

Mario D. Richardt: Die funktioniert wie bei Nierenkranken, also wie im Dialysezentrum? 

Dr. Frank Hoffmann: Ganz, ganz ähnlich, es ist aber nicht das Gleiche wie bei der Dialyse. Wir machen eine sogenannte Immunadsorption. Das heißt, es werden aus dem Blut der Betroffenen Entzündungsmediatoren, insbesondere Antikörper im Grunde herausgewaschen und man erhält seine eigenen Blutzellen und sein eigenes Blutplasma dann wieder. 

Mario D. Richardt: Schubtherapie haben wir gerade schon besprochen. Dann gibt es auch noch die Immuntherapie, wie funktioniert die? 

Dr. Frank Hoffmann: Die Schubtherapie ist im Grunde genommen die Akuttherapie, also damit behandelt man nur die Folgen des gerade aufgetretenen Schubes. Die Immuntherapie muss man sich vorstellen als prophylaktische, als vorbeugende Dauertherapie. Mit dieser Therapie will man erreichen, dass keine zukünftigen Schübe mehr auftreten oder möglichst wenige. Also das heißt, das ist eine vorbeugende Behandlung, ich vergleiche das immer so ein bisschen mit dem Zähneputzen. Das macht man ja auch nicht, um einen herausgefallenen Zahn zu behandeln, sondern um zu verhindern, dass weitere Schäden auftreten. Und diese Immuntherapie erreicht ein Herunterfahren von Entzündungsaktivität. Die Multiple Sklerose ist ja eine entzündliche Erkrankung und wenn man die Entzündungsaktivität dämpft, dann kann man verhindern, dass weitere Schübe und damit weitere neurologische Störungen auftreten. Allerdings ist diese Behandlung eine Dauertherapie. Das heißt die kann man nicht bei Bedarf einsetzen, sondern die muss dann zuverlässig, regelmäßig und dauerhaft erfolgen. 

Mario D. Richardt: Stationär? 

Dr. Frank Hoffmann: Nein, in aller Regel kann man diese Behandlung ambulant durchführen, häufig in Spezialambulanzen oder bei spezialisierten niedergelassenen Kollegen, aber in aller Regel geht das ambulant. Es gibt eine Vielzahl von Medikamenten, die inzwischen erfolgreich erprobt und zugelassen sind. 17 verschiedene Wirkstoffe sind das im Moment. Da sind Tabletten dabei, da sind Spritzen dabei, da sind Infusionen dabei. Welche Dauertherapie im Einzelfall die geeignetste ist, ist sehr individuell zu entscheiden und hängt ein bisschen auch natürlich vom Schweregrad der Erkrankung ab, vom bisherigen Verlauf, auch von Fragen der Familienplanung. Es sind ja häufig junge Erwachsene, häufig junge Frauen betroffen, wo es um die Frage geht, wie sieht es mit dem Kinderwunsch aus? Unter manchen Medikamenten darf man nicht schwanger werden, bei anderen ist es eher möglich. All diese Fragen spielen eine Rolle dabei, welches Medikament man aussucht. Aber immer handelt es sich um eine Langzeittherapie. 

Mario D. Richardt: Dann gibt es noch die symptomatische Therapie. 

Dr. Frank Hoffmann: Die Multiple Sklerose kann ja ganz unterschiedliche Symptome machen, Sie hatten das ja in vorausgegangenen Podcasts schon besprochen, und jeder Patient hat ein ganz individuelles Muster an Beschwerden. Je nachdem, was im Vordergrund steht, also was jetzt wirklich Leidensdruck macht, kann das mit einer symptomatischen Therapie behandelt werden. Also es gibt die Situation, dass tatsächlich Schmerzen auftreten, bei Multiple Sklerose zum Beispiel im Gesichtsbereich, Trigeminusneuralgie oder auch am Auge, am Sehnerv, dann wird man natürlich eine entsprechende Schmerzbehandlung machen. Es gibt die Situation, dass man eine erhöhte Muskelspannung hat, die sogenannte Spastik, dann wird man eine Behandlung mit spastiklösenden Medikamenten machen. Und vielleicht noch sehr wichtig zu sagen, bevor man überhaupt immer nur an Medikamente denkt, gibt es natürlich auch die symptomatische Therapie im Sinne von Bewegungstherapie, Physiotherapie, Gleichgewichtstraining, die Schule, Gangschule, Feinmotorik und Geschicklichkeitstraining, Logopädie, Sprechtherapie, Schlucktherapie und, und, und. Also diese ganzen nicht medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, auch an die muss man denken und die sollte man auch großzügig einsetzen. 

Mario D. Richardt: Ja. 

Dr. Frank Hoffmann: Physiotherapie zum Beispiel ist in jeder Erkrankungsphase und für jeden Betroffenen günstig. Wir wissen ja auch, auch nicht Betroffene profitieren häufig von einer guten Bewegungstherapie. 

Mario D. Richardt: Also diese Therapieformen werden auch gleichzeitig gemixt, sage ich jetzt mal. 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, die kann man natürlich kombinieren. Das ist ein sehr individuelles Vorgehen. Wenn man natürlich keinen Schub hat, dann braucht man auch keine Schubtherapie und je nachdem welche Symptome man hat, das können ja zum Beispiel auch jetzt Blasenstörungen sein, oder Gleichgewichtsstörungen, kann man das symptomatisch behandeln und natürlich kann man das Ganze kombinieren mit einer Immundauertherapie. 

Mario D. Richardt: Wenn so ein Schub kommt, ist der dann plötzlich da oder kündigt der sich ein paar Tage vorher an? 

Dr. Frank Hoffmann: Ganz schwierig zu beantworten die Frage, weil auch das sehr individuell ist. Also Schübe kommen jetzt nicht blitzartig, aber es gibt Patienten, die tatsächlich innerhalb von wenigen Stunden erhebliche Einschränkungen erfahren, wo man tatsächlich auch mal eine Schubsymptomatik mit einem Schlaganfall verwechseln kann, weil es so plötzlich beginnt. Häufiger noch berichten aber die Betroffenen, dass es sich über mehrere Tage entwickelt und dass sie schon das Gefühl hatten, irgendwas stimmt nicht und dann kommt zum Beispiel eine Sehstörung dazu, eine Gleichgewichtsstörung oder eine Schwäche in einer Gliedmaße, eine Gangstörung und so weiter. Also es nicht so ein Lichtschalter “ein und aus”, aber es entwickelt sich jetzt über Stunden bis Tage, so würde ich es sagen. Manche Patienten haben tatsächlich sogar ein Problem zu sagen, ob es überhaupt ein Schub ist. Es gibt ja auch Symptome der MS, die nicht so körperlich spürbar sind, sondern eher so Mattigkeit, Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen verursachen. Auch wird das mal mit einem grippalen Infekt oder mit Überarbeitung oder so was in Verbindung gebracht und ist dann, wenn man genau nachsieht, zum Beispiel im MRT, trotzdem eine Folge von einem Schub. 

Mario D. Richardt: Wenn Sie dann die Schubtherapie einsetzen, wie schnell zeigt sich dann die Wirkung im besten Fall? 

Dr. Frank Hoffmann: Die Wirkung ist umso besser, je eher man das beginnt und man muss es natürlich auch richtig machen, also hochdosiert mit Kortison. Wir nehmen dazu Prednisolon, so ist das auch in den Leitlinien vorgeschrieben, intravenös hochdosiert. Im günstigen Fall merkt man innerhalb von ein, zwei, drei Tagen schon eine Wirkung. Viele Patienten sind noch während, drei bis fünf Tage gibt man da Medikament, der intravenösen Gabe komplett wieder von dem Schub beschwerdefrei. Leider nicht in allen Fällen. Das sagte ich ja. Dann kann man unter Umständen noch mal mit einer doppelten Dosis behandeln oder die Blutwäschebehandlung einsetzen. 

Mario D. Richardt: Wie häufig muss denn das Gehirn kontrolliert werden, zum Beispiel im MRT, ob es da neue Veränderungen gibt? 

Dr. Frank Hoffmann: Auch das ist sehr individuell. Also für die Diagnosestellung ist das MRT unabdingbar. Also am Anfang, um die Diagnose zu sichern, benötigt man unbedingt eine MRT, im weiteren Verlauf ist es individuell. Wenn man eine Immuntherapie beginnt, sollte man die Wirkung der Immuntherapie kontrollieren, unbedingt, also klinisch. Man untersucht die Betroffenen, guckt, ob alles stabil bleibt oder neue Symptome aufgetreten sind und man kontrolliert das im MRT. Und wenn das MRT nach einem Jahr stabil ist und auch der Patient stabil ist, ohne neue Beschwerden, dann kann man die Kontrollintervalle für das MRT großzügig handhaben. Wenn das nicht der Fall ist, muss man natürlich öfter kontrollieren. Also am Anfang wird man ungefähr jährlich ein MRT machen. Bei sehr stabilen Patienten kann man die Intervalle dann aber auch strecken, auf zwei, drei oder auch mehr Jahre. 

Mario D. Richardt: Wenn jemand hier ist bei Ihnen im Krankenhaus für die symptomatische Therapie, weil ja eben wirklich sehr viele Symptome auch gleichzeitig aufgetreten können, sind die ganzen Therapeuten direkt bei Ihnen hier im Haus oder muss man dann sozusagen von Praxis zu Praxis? 

Dr. Frank Hoffmann: Hier im Krankenhaus sind alle Therapeuten vorhanden. Das ist auch Voraussetzung für diese Zertifizierung, also wir haben Logopäden, Sprech- und Schlucktherapeutinnen, Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Neuropsychologinnen, also all diese Berufsgruppen stehen zur Verfügung, die gibt es aber auch im ambulanten Bereich. Leider ist es dann manchmal mühsam Behandelnde zu finden, insbesondere Neuropsychologinnen sind sehr dünn gesät und das kann manchmal mühsam und anstrengend sein für die Betroffenen die Therapien aufzusuchen. 

Mario D. Richardt: Steht es denn fest, dass man im Krankheitsverlauf immer mehr Symptome bekommt, also, dass immer mehr dazu kommt und damit quasi auch immer mehr Therapie im Laufe der Krankheit nötig ist? 

Dr. Frank Hoffmann: Nein, es gibt tatsächlich immer wieder Patienten und Patientinnen, die einen sehr stabilen Verlauf haben, die über Jahrzehnte keinerlei Verschlechterung feststellen und einzelne Fälle habe ich auch immer wieder erlebt, wo es tatsächlich sogar auch Verbesserungen gibt. Das sind natürlich Ausnahmen. Also das sind ein paar Prozent, fünf bis zehn Prozent, würde ich sagen, aber es ist nicht so, dass diese Erkrankung gesetzmäßig immer nur bergab geht. Es gibt durchaus sehr stabile und lange stabile Phasen und auch Betroffene, die wirklich Jahrzehnte lang von außen betrachtet unbeeinträchtigt sind und auch ein normales Leben führen können, beruflich, privat, familiär. Und es gibt auch einzelne Patienten, die sich im Lauf der Jahre tatsächlich auch verbessern von ihren körperlichen Beschwerden her, von der Gehfähigkeit, von der Leistungsfähigkeit. 

Mario D. Richardt: Ist es denn möglich zu verhindern, dass man neue Symptome dazubekommt, zum Beispiel durch die Immuntherapien? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, natürlich. Und das ist das Ziel der Immuntherapien. Das ist auch durchaus schon zumindest teilweise erreicht. Das sieht man daran, dass sich die Zahl der schwer Betroffenen, also sprich Hilfsbedürftigen oder bettlägerigen Betroffenen erheblich vermindert hat. Also früher war das in den Krankenhäusern so, dass wir viele dieser schwer Betroffenen betreuen mussten. Das ist jetzt die große Ausnahme, also die jungen Kolleginnen, Kollegen kennen das gar nicht mehr, Patienten, die weitestgehend hilflos sind oder erleben das nur noch sehr, sehr selten zum Glück. Aus meiner Sicht ein ganz klares Indiz dafür, dass diese Immuntherapien schon wirklich eine positive Wirkung haben und auf Dauer schwere Behinderungen verhindern können. Es gibt auch die These, dass die Erkrankung insgesamt gutartiger geworden ist, weshalb diese schweren Verläufe eher seltener sind, das halte ich aber nicht für sonderlich plausibel. 

Mario D. Richardt: Eine Kollegin von Ihnen hat mal gesagt, Multiple Sklerose ist mittlerweile so was wie eine Alltagsdiagnose. Würden Sie das auch so sagen? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, wir haben wahrscheinlich viele Jahre lang die Häufigkeit und die Zahl der Betroffenen massiv unterschätzt. Das liegt daran, dass viele Betroffene erst sehr spät zum Arzt gegangen sind und daran, dass ja Beschwerden auch wieder verschwinden. Das muss man auch sagen. Es ist immer wieder so, dass bis man einen Arzttermin bekommt, in mehreren Wochen oder so, schon wieder alles in Ordnung sein kann. Dann geht man der Sache auch nicht mehr so richtig nach. Und es liegt daran, dass wir früher kaum MRT-Untersuchungsmöglichkeiten hatten und das heute sehr viel einfacher möglich ist. Also inzwischen ist die Zahl der Betroffenen immer wieder nach oben korrigiert worden. Wir sind jetzt inzwischen schon bei 260.000 bis 280.000 in Deutschland und wenn man noch genauer gucken würde, würde man wahrscheinlich noch mehr finden. 

Mario D. Richardt: Woran liegt es, dass sich die Behandelbarkeit in den letzten 20 Jahren so wunderbar verbessert hat? Sind es bessere Medikamente? Sind es neue Therapieformen? Die Immuntherapie? Also, was hat dazu geführt? 

Dr. Frank Hoffmann: Das sind in der Tat bessere Medikamente. Es ist ja eine Erkrankung, die intensiv beforscht wird und wo sich in einer Vielzahl von Studien immer neue therapeutische Ansätze ergeben haben, die zum Teil von anderen Erkrankungen übernommen wurden. Die Multiple Sklerose hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Rheumaerkrankung zum Beispiel. Viele der neuen Medikamente kommen aus der Rheumatherapie und haben sich auch bei der Multiplen Sklerose als sehr wirksam erwiesen, weil die haben beide das Therapieprinzip, Rheumatherapie und Multiple Sklerose Therapie, dass sie entzündungshemmend arbeiten. Auch Rheuma verläuft ja häufig in Schüben und diese Medikamente haben sich bewährt und wurden auch immer, in neuen Dosierungen und immer neuen chemischen Veränderungen eingesetzt. Damit wurden auch die Effekte, also die Wirksamkeit auf den Krankheitsverlauf und auch aufs MRT immer besser. 

Mario D. Richardt: MS zerstört ja Nervenzellen und zerstörte Nervenzellen lassen sich ja nicht wieder herstellen. Ist es dennoch möglich, verloren gegangene Fähigkeiten wieder neu zu erwerben? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, also früher dachten wir ja, wenn eine Nervenzelle schwer beschädigt oder kaputtgegangen ist, dann ist der Ausfall nicht mehr zu ersetzen. Das ist nicht richtig. Unser Gehirn ist ein sehr komplexes und kompliziertes Gebilde aus Milliarden, zig Milliarden von Nervenzellen und hat eine sogenannte Netzwerkstruktur. Und diese Netzwerkstruktur bedeutet, dass es auch Areale im Gehirn gibt, die im Grunde genommen nahezu brach liegen und die einspringen können, wenn andere Gebiete beschädigt sind. Man nennt das dann Plastizität. Also neuronale Plastizität und gerade bei jüngeren Menschen am Anfang der Erkrankung kann durch Übung neuronale Plastizität gefördert werden und so ermöglichen, dass neurologische Ausfälle ausgeglichen werden. Also so, dass sich tatsächlich auch eine Besserung wieder einstellen lässt, durch Übungsbehandlung. Schönes Beispiel für die neuronale Plastizität, wir alle können nicht auf einem Schwebebalken einen Salto rückwärts springen, aber wenn man das übt, dann kann man das. Und ein MS-Betroffener muss natürlich jetzt nicht auf einem Schwebebalken springen können, aber wenn der zum Beispiel eine Gang- oder Gleichgewichtsstörung hat, dann kann er durch Übung über die neuronale Plastizität wieder ein normales Gangbild erwerben. 

Mario D. Richardt: Das ist ja zur Hoffnung Anlass gebend. Was kann man denn als Betroffener selbst noch tun, außerhalb der Therapieformen, die Sie anbieten? 

Dr. Frank Hoffmann: Ja, das sind jetzt ein paar Ratschläge, die vielleicht nicht bei jedem ankommen aber eine gesunde Lebensführung ist ganz wichtig und man weiß von einem Risikofaktor, der den Verlauf der Multiplen Sklerose ungünstig beeinflusst. Der ist also ganz klar gesichert und das ist das Zigarettenrauchen. Also das inhalative Rauchen sollte man nicht machen oder nicht anfangen. Man sollte auch das Körpergewicht kontrollieren und in Grenzen halten. Man muss jetzt nicht irgendwelche Diäten machen, es gibt keine Hinweise darauf, dass irgendwelche hochspeziellen Diäten notwendig sind bei Multiple Sklerose, aber man sollte sich gesund, vitaminreich und vernünftig ernähren und drauf achten, dass das Gewicht stimmt. Bewegung ist auch sehr gut und wichtig, sowieso für jeden Menschen und erst recht für MS-Betroffene. 

Mario D. Richardt: Dann danke ich Ihnen an dieser Stelle, Dr. Hoffmann und in der nächsten Folge geht es dann um die Multiple Sklerose und die Psyche. Vielen Dank. 

Dr. Frank Hoffmann: Danke Ihnen auch.