Jede:r Zweite von uns ist chronisch krank. Sprechen wir darüber. In insgesamt 11 Podcastfolgen geht es um die große Volkskrankheit Diabetes. Wir führen Sie durch jede Phase der Krankheit, damit Sie immer gut informiert sind. Heute geht es in der vierten Folge um die Behandlung und Medikamente bei Diabetes Typ 2. Willkommen beim Podcast Chronisch Mensch.

Thomas Müller

Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologe, Diabetologe & Notfallmediziner mit Diabetesschwerpunktpraxis sowie hausärztlicher Versorgung in Leipzig   

Transkript der Folge Behandlung und Medikamente bei Diabetes

Mario D. Richardt: In dieser Folge besprechen wir also die wichtigsten Therapiemöglichkeiten. Experte ist diesmal Endokrinologe und Diabetologe Dr. Thomas Müller aus Leipzig. Schönen guten Tag.  

Dr. Thomas Müller: Hallo, ich freue mich, dass ich dabei sein darf.  

Mario D. Richardt: Dr. Müller, wie lässt sich denn Diabetes Typ 2 behandeln oder anders gefragt, wie lässt sich Diabetes mit der richtigen Therapie in den Griff bekommen?  

Dr. Thomas Müller: Wir haben das Glück, dass Diabetes mellitus Typ 2 im Moment sehr, sehr gut zu behandeln ist. Es gibt Medikamente, die physiologisch wirken. Es gibt verschiedenste Therapieansätze und somit kann man die Frage tatsächlich kurz und knackig beantworten: Diabetes ist derzeit mit der therapeutischen Intervention gut in den Griff zu bekommen.  

Mario D. Richardt: Wie wichtig ist es denn, den Blutzucker richtig einzustellen?  

Dr. Thomas Müller: Früher war es so, dass man sehr blutzuckerorientiert therapiert hat, straffe Zielbereiche für Blutzuckerwerte und Blutzuckerlangzeitwerte. Davon ist man in den letzten drei, vier Jahren deutlich weggekommen. Man geht dazu über, dass man eher Begleiterkrankungen, Risikofaktoren und vor allen Dingen Spätfolgen behandelt. Das heißt, das Ziel ist gar nicht mehr zwingend an erster Stelle ein perfekter Blutzuckerwert an sich, sondern die Verhinderung von kardiovaskulären Ereignissen, von Gefäßschäden, also von den Folgen, die letztlich eine schlechte Diabeteseinstellung in der Zukunft mit sich bringt.  

Mario D. Richardt: Das heißt also, die optimalen Werte gibt es gar nicht mehr? 

Dr. Thomas Müller: Es gibt tatsächlich Empfehlungen und es gibt unterschiedliche Empfehlungen für unterschiedliche Altersgruppen. Die Diabetologie ist im Moment sehr stark dabei, sich zu individualisieren. Man versucht sozusagen, jedem Patienten seine individualisierte und eigene Therapie zukommen zu lassen und dort orientiert man sich dann natürlich in Abhängigkeit von allen Begleitsituationen an einem HbA1c-Wert, das ist der Blutzuckerlangzeitwert mit Zielbereichen. Aber es gibt keine festen Blutzuckerlangzeitwerte mehr, die man anstrebt, sondern immer im Kontext mit dem Patienten und den einzelnen Gegebenheiten als Therapieziel sieht.  

Mario D. Richardt: Deshalb muss es wahrscheinlich immer mal wieder angepasst werden? 

Dr. Thomas Müller: Genau, das ist im Prinzip das Wesen der diabetologischen Betreuung, dass man die Therapie immer wieder hinterfragt, dass man die Therapie immer wieder optimiert und gemeinsam mit dem Patienten erkennt, welche Ressourcen kann man aktivieren? Gibt es Einflussfaktoren, die sich geändert haben? Und somit muss man immer wieder neu die Therapie und die Therapieziele auch verändern im Verlauf der Behandlung. 

Mario D. Richardt: Dann fangen wir vielleicht mal mit der Basistherapie an. Das sind also die Möglichkeiten, die man als Betroffener am meisten selbst ergreifen kann. Wie würden Sie diese Basistherapie beschreiben?  

Dr. Thomas Müller: Tatsächlich ist es so, dass die sogenannte Lifestyle Modifikation das ist, was Sie als Basistherapie bezeichnen und da existieren extrem viele Möglichkeiten und die meisten Patienten haben ausgesprochen viel Potenzial. Das Schlechte ist, dass das häufig bei vielen nicht aktiviert werden kann und dass es auch eigentlich die schwierigste therapeutische Intervention ist. Das Ziel ist ja letztlich nicht, dass wir sofort Medikamente benutzen, um den Diabetes zu therapieren. Das Ziel ist, dass man letztlich oder am Anfang sieht, was kann der Patient selber durch Veränderung von Ernährung oder Bewegung tun, um dort eine Verbesserung der Stoffwechsellage zu erzielen? Wir leben ja jetzt zum Glück in einer Wohlstandsgesellschaft. Das bringt Bürotätigkeit oder acht Stunden sitzende Tätigkeit mit sich. Ich selber mache das ja genauso. Hier und dort ist prinzipiell immer viel Potenzial. Das heißt, die Aktivität steigern, die Ernährungsgewohnheiten verändern. Wenn wir unsere Ernährungssituation mal betrachten, wir haben derzeit überall jederzeit hochkalorische energiedichte Mahlzeiten zur Verfügung, dreimal am Tag, und das ist unser Körper nicht gewöhnt. Und wenn man aber dort versucht, sozusagen die Lebensstilsituation zu verändern, wird man schnell feststellen, dass es sehr schwer ist, dass das vielen gelingt, aber vielleicht nicht auf lange Zeit. Man weiß, dass man damit aber eindrucksvolle Ergebnisse erzielen kann, wenn man dieses Potenzial irgendwie versucht zu aktivieren.  

Mario D. Richardt: Dreimal am Tag wäre gut, meistens ist es sogar fünf-, sechs-, siebenmal am Tag. Dann immer mal so ein kleiner Snack zwischendurch, hier noch ein bisschen Obst und da noch ein Milchshake und ein Stück Kuchen.  

Dr. Thomas Müller: Wir können das tatsächlich noch ein bisschen zurückverfolgen, wenn man mal mehrere tausend Jahre zurückdenkt. Unser Körper ist prinzipiell darauf angelegt, dass er sich acht bis zwölf Stunden am Tag aktiv bewegt und benutzen lassen muss und eigentlich immer eine Mangelernährung herrschte. Und wir leben zum ersten Mal jetzt in einer Situation, hier in der Wohlstandsgesellschaft in Mitteleuropa und Nordamerika, aber man sieht mittlerweile auch Schwellenländer wie Mexiko, Indien, China, sobald ein gewisser Wohlstand Einzug hält, ist es für den diabetologischen oder überhaupt für den Stoffwechsel niemals von Vorteil. Wir sitzen acht bis zehn Stunden im Büro. Wir haben ständig, wie gesagt, hochkalorische Mahlzeiten zur Verfügung und zwischendurch gibt es alles. Wenn sich jeder mal kritisch hinterfragt, was noch nebenbei passiert, da sehen wir, dass das eigentlich nur schiefgehen kann.  

Mario D. Richardt: Aber interpretiere ich da Ihre Aussagen richtig, dass sich also Diabetes allein aufgrund des Lebensstilwandels behandeln ließe? 

Dr. Thomas Müller: Tatsächlich ist es so, dass prinzipiell Diabetes Typ 2, das müssen wir ganz klar differenzieren, durch eine Änderung des Lebensstils theoretisch heilbar oder behandelbar ist. Doch jetzt kommt ein Aber: Bei jedem Patienten gibt es noch eine genetische Komponente, die eine Rolle spielen wird, und die ist schwierig durch den Lebensstil alleine zu beeinflussen. Und daher setzt man dann mit einer individuellen Therapie und mit der individuellen Behandlung beim Patienten an.  

Mario D. Richardt: Aber grundsätzlich empfiehlt man ausreichend Sport. Wie viel ist ausreichend?  

Dr. Thomas Müller: Die derzeitige Empfehlung der Gesellschaften besagt, dass Patienten, die eine Bewegungsintervention erhalten sollen, 150 bis 180 Minuten pro Woche, das sind also drei Stunden Sportaktivität, anstreben sollten. Das wäre effektiv, im Sinne von ausreichend. Drei Stunden Bewegung pro Woche, wenn man es kritisch hinterfragt, sind nicht viel. Wenn man aber berücksichtigt, dass viele im Berufsleben stehen und eine Familie mit kleinen Kindern zu Hause haben und diejenigen sollen nun abends nach 18:00 Uhr, 19:00 Uhr, nach der Arbeit, jetzt noch eine Stunde Ausdauerlauf machen, da sehen wir, wie begrenzt dort manchmal die Möglichkeiten und auch das Potenzial sind.  

Mario D. Richardt: Zu dieser Basistherapie gehört ja auch, dass man vielleicht Übergewicht abbaut. Wie viel Gewicht ist dabei nötig? Kann jeder überhaupt so viel Übergewicht abbauen, dass die Therapie anschlägt?  

Dr. Thomas Müller: Es gibt keine klaren Ziele. Man weiß, dass Gewichtsreduktion, wenn Übergewicht vorliegt, tatsächlich sehen wir auch Diabetespatienten ohne Übergewicht, dort ist dann sozusagen der Einfluss der Gewichtsreduktion deutlich weniger, bei Patienten eines der wichtigsten Therapieziele ist. Auch am Anfang, weil man damit die erfolgreiche Diabetestherapie begleiten sollte. Wir sehen tatsächlich Patienten mit ausgeprägtem Übergewicht und ausgesprochen ungesunder Lebensweise, die keinen Diabetes entwickeln. Genauso sehen wir jüngere Patienten mit wenig Übergewicht, die sogar sportlich aktiv sind und trotzdem in jüngeren Jahren Diabetes Typ 2 entwickeln können. Das ist wichtig, wenn man die Frage beantwortet, ob Gewichtsreduktion alleine erfolgversprechend ist. Aber gerade in der Basistherapie ist es natürlich eines der wichtigen angestrebten Ziele.  

Mario D. Richardt: Wenn wir die Ernährung in der Basistherapie nochmal ansprechen, reicht es, nachmittags das Stück Kuchen wegzulassen oder was ist dabei das Wichtigste? Fünf Stunden Pause zwischen den Mahlzeiten und lieber mehr Salat und Fleisch als Kohlenhydrate?  

Dr. Thomas Müller: Das Stück Kuchen am Nachmittag wird mit Sicherheit einen ganz kleinen Effekt beitragen. Allerdings muss man, meine persönliche Meinung, bedenken, dass dieses Stück Kuchen vielleicht auch im Kontext der Lebenssituation für Lebensfreude sorgt, etwa mit der Freundin oder mit dem Mann. Dabei wäre mein Ziel gar nicht, dass man das der alten Dame wegnimmt, um den Zuckerstoffwechsel zu beeinflussen. Tatsächlich ist mehr Gemüse immer ein Vorteil, ebenso wie weniger Kohlenhydrate. Das sind so die allgemeinen Ernährungsempfehlungen, in der Umsetzung sind diese tatsächlich sehr, sehr schwer.  

Mario D. Richardt: Zum Thema Ernährung bei Diabetes gibt es sogar eine Extrafolge. Da können Sie nochmal in Ruhe alles nachhören. Das ist in Folge sechs. Wie oft am Tag muss denn eigentlich der Blutzucker bestimmt werden, in der Therapie?  

Dr. Thomas Müller: Die Therapie des Diabetes, das müssen wir von vorneherein sagen, die gibt es in unterschiedlichster Art und Weise. Zum Beispiel als medikamentengeführte Therapie, das heißt Tabletten, die man isst. In dieser Situation ist es theoretisch nicht zwingend notwendig, regelmäßig den Blutzucker zu messen. Oder als Therapieform, bei der man sich am Tag vier bis siebenmal Insulininjektionen, also Insulinspritzen unter die Haut setzt. Dabei sprechen wir dann von Blutzuckermessung mindestens vier bis achtmal, je nach Stoffwechsellage Problem und Lebenseinflüssen, wie Sport, Arbeit oder Nachtschichten. All das spielt dann eine Rolle.  

Mario D. Richardt: Wie lässt sich das am besten in der Praxis realisieren, mit der Blutzuckermessung? Hat man quasi immer so ein kleines Kit am Mann oder an der Frau? 

Dr. Thomas Müller: Also wir haben das Glück, dass wir mittlerweile in der Diabetestechnologie extreme Fortschritte gemacht haben. Wenn man sich noch ans letzte Jahrtausend erinnert, das heißt vor der Jahrtausendwende in den 1960, ’70er Jahren, war das eine ganz andere Situation. Da hatte man maximal alle zwei Monate eine Blutzuckermessung zur Verfügung, bei seinem Hausarzt. Wir haben jetzt in der Diabetologie die Möglichkeit dauerhaft und regelmäßig Zucker zu messen Der Klassiker war lange Zeit die Messung an den Fingern. Das kennen Sie vielleicht im Freundeskreis, vier bis siebenmal am Tag ein kleiner Stich in die Fingerkuppe und dann konnte man selber mit einem kleinen Messgerät, so groß wie ein Handy, das hat man immer dabei, die Blutzuckerwerte bestimmen und so die Therapie dadurch mit gestalten. Tatsächlich haben wir jetzt eine Entwicklung, die für die Patienten ausgesprochen komfortabel ist, die sogenannte Sensortechnik. Es gibt jetzt also kontinuierliche Glukosemessgeräte, die in Form eines kleinen Sensors, so groß wie eine Geldmünze, zum Beispiel auf den Arm geklebt werden und dann zwischen 10 und 14 Tage am Körper bleiben. Damit können die Patienten im Prinzip kontinuierlich dauerhaft ihre Glukosewerte beobachten, 24 Stunden, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Es gibt Systeme, die man aktiv scannen muss, das bedeutet der Patient muss mitarbeiten, undsein Lesegerät, das ähnlich wie ein Handy aussieht, an den Sensor führen, um Daten zu generieren. Es gibt auch mittlerweile Systeme, die die Daten automatisch an die Lesegeräte senden und selbst, wenn der Patient nicht aktiv wird, hat er seine Zuckerwerte 24 Stunden, sieben Tage die Wochein der Software parat.  

Mario D. Richardt: Muss man denn sofort Angst haben vor Insulinspritzen, wenn man die Diagnose Diabetes Typ 2 bekommt? 

Dr. Thomas Müller: Tatsächlich ist es eine der größten Ängste der Patienten, dass es zur Insulinspritze kommt. Wir haben in der Diabetestherapie mittlerweile moderne Medikamente, die sich im Momentsehr schnell weiterentwickeln. Das Ziel derzeit, dass man die körpereigenen Ressourcen aktiviert und sozusagen nicht sofort einfach nur den Zucker mit Insulin versucht zu beeinflussen und herunterzuspritzen, sondern versucht im Körper die vorhandenen Ressourcen, auch das Insulin, was bei vielen Diabetespatienten im Körper ist, aber in seiner Wirkung nicht mehr effektiv, zu nutzen. Man nennt dies  eine sogenannte Insulinresistenz unddort will man ran. Man will mit physiologisch wirkenden Medikamenten die  Körperfunktion beeinflussen, um die Diabetesstoffwelchsellage positiv zu beeinflussen und jetzt kommt ein Aber, das Insulin ist im Vergleich zu früher im Therapiealgorithmus ganz weit nach hinten gerückt Das heißt in der Vergangenheit, als man die modernenAntidiabetika nicht hatte, hat man sehr schnell zur Insulinspritze gegriffen. Jetzt versucht man das Ganze erst dann zu aktivieren, wenn es nicht anders geht. Wenn wir bei uns in der Praxis zu jemanden sagen: „Du brauchst Insulin“, dann ist das eigentlich nichts, was negativ betrachtet werden sollte, sondern dann ist es die Chance, weil das Insulin an der Stelle natürlich ausgesprochen gut wirkt. Wenn es notwendig ist, dann gibt es keine andere Chance, dann ist das die Lebensversicherung, auch für die Zukunft. Wir haben das Glück, dass wir in einer Gesellschaftsform leben, wo Insulin dauerhaft verfügbar ist. Wenn man zum Beispiel in die USA schautsieht man, dass Diabetestherapien nicht stattfinden, weil Insuline nicht bezahlt werden können,da dort andere Versorgungsstrukturen vorliegen. Und so versuche ich meinen Patienten dann, wenn die Notwendigkeit besteht, ihnen das als Chance begreiflich zu machen und ihnen nicht zu sagen: „Sie müssen jetzt Insulin spritzen.“ Das Problem ist, dass Diabetestherapie am besten funktioniert, wenn man mit dem Patienten zusammenarbeitet und von der Therapie auch überzeugt ist. Früher war es einfach, da hat der Arzt gesagt: „Sie machen das oder Sie müssen das machen“. Der Patient hat dies, wenn es ihm nicht gepasst hat, weniger gut umgesetzt unddie Therapie war meistens nicht von Erfolg gekrönt. Wenn man jetzt ein Therapieregime etabliert, von dem der Patient überzeugt ist, weil er es auch versteht und er weiß, warum das passiert und, dass es ihm guttut, hat man tatsächlich deutlich bessere Erfolge. Das ist moderne Diabetologie.  

Mario D. Richardt: Über die weiteren Medikamente sprechen wir gleich noch, lassen Sie uns erst mal beim Insulin bleiben. Wenn Insulin gespritzt werden muss, wie muss man sich das vorstellen? Gibt es einen Tagesplan, Wochenplan, wie viel, wie geht der Patient damit um?  

Dr. Thomas Müller: Die Insulingabe versuchen wir unseren Patienten so einfach wie möglich zu erklären. Tatsächlich schaffen auch deutlich hochbetagtere Patienten die Umsetzung der Therapie sehr schnell. Vom Handling ist es einfach formuliert, ein kleiner Stich unter die Haut, der nicht schmerzhaft ist und eigentlich von den meisten Patienten, wenn sie im Sehen oder mit den Händen nicht beeinträchtigt sind, gut umzusetzen ist. Die Therapiestrategie, die sich dann anschließt, gibt es in verschiedensten Formen. Es gibt Patienten, die müssen einmal am Tag ein sogenanntes Langzeitinsulin spritzen und haben damit schon eine ausreichende Versorgung. Es gibt aber auch Patienten, die sich sich tatsächlich nur Insuline zu ihren Mahlzeiten spritzen. In der sogenannten (unverständlich 1:13:25) Therapie wird, je nachdem was ich esse, vorher bestimmt, wie viel Insulin notwendig sein wird. Dann reden wir zum Beispiel von theoretisch drei Spritzen am Tag. Es gibt Therapieformen, die sind zwar nicht mehr wirklich modern, aber es gibt Patientengruppen, die davon profitieren, etwa Pflegepatienten oder bettlägerische Patienten, die vielleicht  nicht mehr selber Insulin spritzen können, sondern von Pflegepersonal betreut werden. Dannwird man zum Beispiel mit sogenanntem Mischinsulin und zweimaligen Spritzen, das heißt eine Spritze am Morgen, eine am Abend, zwar nicht das optimale Therapieziel erreichen, aber eins, was für den Patienten völlig ausreichend ist ohne dass er eine große Beeinträchtigung hat. Die klassische Therapieform ist die sogenannte intensivierte Insulintherapie, das bedeutet, dass man ungefähr drei bis sechs Spritzen am Tag setzt Das Grundprinzip ist, dass man mit einer Langzeitinsulinspritze eine basale Versorgung gewährleistet und dann jeweils zu den Mahlzeiten, theoretisch Frühstück, Mittag und Abend noch ein Kurzzeit-, ein Mahlzeiteninsulin mit dazu gibt und je nach Zuckerwerten auch die Dosis selber bestimmt.  

Mario D. Richardt: Wie stellt man sicher, dass die richtige Dosis gespritzt wird? Also ich habe herausgehört, das hat auch viel mit Rechnerei zu tun.  

Dr. Thomas Müller: Da kommen wir genau zu dem Punkt, an dem man für jeden Patienten eine individualisierte Therapie entwickeln möchte. Wir haben Patienten, die jeden Blutzuckerwert sehr kritisch hinterfragen und deren Ziel es ist, eine absolut optimale Stoffwechselsituation zu erreichen, ohne dass sie Werte haben, die aus den Referenzbereichen fallen. Das sind Patienten, die tatsächlich die Insulinmenge genau an die Mahlzeiten anpassen Es gibt dann Berechnungsmöglichkeiten, wie viel Insulin man bei wie viel Mahlzeiten aufnehmen muss und tatsächlich ist es so, dass man die entsprechenden Mengen bei jedem Patienten erst herausfinden muss, da Insulin bei jedem anders wirken kann.  

Mario D. Richardt: Was kann denn schlimmstenfalls passieren, wenn der Patient sich verrechnet?  

Dr. Thomas Müller: Also ganz klar, die schlimme Nebenwirkung einer falschen Insulintherapie ist die Unterzuckerung. Das heißt, entweder spritzt der Patient aus Versehen zu viel Insulin oder er spritzt Insulin und vergisst zu essen, isst zu wenig und dann kommt die Hypoglykämie, die Unterzuckerung. Das ist ein lebensbedrohlicher Notfall. Die meisten Patienten bemerken die Unterzuckerung und haben Warnsignale im Körper, die sie ernst nehmen und dann darauf reagieren, indem sie rasch, schnell verfügbare Zucker zuführen, Traubenzucker, Cola, Schokolade, alles Mögliche. Es gibt aber auch Patienten, die merken die Unterzuckerung nicht, fallen einfach um und sind als Notfall mit der 112 in der nächsten Notaufnahme wiederzufinden. Das Spektrum der therapeutischen Möglichkeiten ist also sehr breit. Wie gesagt, vom Beispiel des sehr engagierten jüngeren Patienten, der jeden Zuckerwert beeinflusst, bis hin zu bettlägerischen Patienten, bei dem wir  keiner optimale Diabetesstrategie fahren, da wir zwarBlutzuckerwerte, die komplett außerhalb des Bereiches liegen, aber in der Summe trotzdem erst mal eine stabile Situation haben und die Patientin auf Dauer keinen Schaden erleidet. 

Mario D. Richardt: Kann man denn auch Medikamente nehmen, um den Blutzucker zu senken?  

Dr. Thomas Müller: Das, was wir bisher besprochen haben, Insulintherapie, ist ja genau das, wo wir tatsächlich auch Blutzuckerwerte beeinflussen. Die Medikamente, von denen wir sprechen, sind theoretisch Medikamente,  die nicht direkt blutzuckersenkende Wirkung haben, sondern die im Körper Mechanismen bedienen und auch Mechanismen auslösen, um gegebenenfalls natürlich die Zuckerwerte zu senken, allerdings über längere Zeit, mit sozusagen physiologischen Methoden. Wenn man noch etwas weiter in die medikamentösen Optionen geht, gibt es wenige Medikamente mit tatsächlich aktiv blutzuckersenkenden Wirkungen, auch mit dem Risiko der Unterzuckerung. Das sind, wenn man ins Detail geht, die sogenannten Sulfonylharnstoffe, die in der modernen Diabetologie derzeit sehr wenig Verwendung finden. Wenn man in der Diabetologie aber über den Tellerrand schaut, und das machen wir regelmäßig, gibt es nicht nur Empfehlungen, zum Beispiel der internationalen Diabetesgesellschaften, es gibt auch Empfehlungen der Kardiologen zur Diabetesbehandlung. Außerdem gibt es Empfehlungen von Fachgesellschaften für die Allgemeinmedizin. In diesen Empfehlungen werden die Sulfonylharnstoffe noch relativ weit vorne in der Diabetesbehandlung gesehen.  

Mario D. Richardt: Dieses Medikament, soll auch dazu führen, dass es weniger Folgeschäden gibt an Augen, Nerven und Füßen.  

Dr. Thomas Müller: Tatsächlich ist es so, dass die Folgeschäden an Nerven, an Füßen, an Blutgefäßen bei einer schlecht eingestellten Diabetessituation entstehen. Das heißt, jegliche Diabetesmedikation wirkt sich positiv auf genau diese Folgeschäden an Nerven, Gefäßen und Augen positiv aus. Die Sulfonylharnstoffe, von denen wir gerade gesprochen haben, hatten ehrlicherweise im letzten Jahrtausend ihre große Zeit und es sind sehr gute Medikamente, die in dieser Zeit genau das erfüllt haben, was man wollte. Tatsächlich sind die Entwicklungen in der Diabetologie aber zum Glück sehr umfangreich und sehr schnell und es gibt mittlerweile modernere Therapieansätze, die wir favorisieren. Nichtsdestotrotz gibt es Patienten, die mit diesem Medikament versorgt sind, denen es gut geht und die eine gute Stoffwechselsituation bieten. Dort würde man mit dem Patienten gemeinsam entscheiden, ob es für ihn notwendig ist, die Therapie zu ändern oder ob der Patient sagt: “Nein, ich fühle mich damit wohl”. Auch dann ist es eine therapeutische Option.  

Mario D. Richardt: Welche moderneren Therapieansätze sind das? 

Dr. Thomas Müller: Ganz grundsätzlich ist es eigentlich das Ziel, dass man versucht an die Ursache des Diabetes zu kommen. Das heißt, Diabetestherapie, die darauf zielt, den Blutzucker zu senken, senkt zwar den Blutzucker in dem Sinne ab, aber ist nichts, was die Ursache dieser Stoffwechselsituation heilt, lindert oder beseitigt. Also unser Ziel in der modernen Diabetologie ist, die Mechanismen im Körper zu bedienen, die es vielleicht schaffen aus diesem schlechten Stoffwechsel herauszukommen und wenn wir dabei von Medikamentengruppen sprechen, gibt es in den letzten 10 Jahren wirklich beeindruckende Entwicklungen. Da sind die GLP-1-Rezeptor-Agonisten erwähnt, das sind Medikamente, die am Hormonsystem des Darms ansetzen und die SGLT2-Inhibitoren, das sind Medikamente, die über die Niere wirken und als moderne Antidiabetika derzeit bezeichnet werden. Der Hintergrund bei diesen Medikamenten ist ein ganz wichtiger, denn die Diabetestherapie hat in der Vergangenheit gezeigt, dass es auch Medikamente gab, die Nebenwirkungen hatten, zum Beispiel am Herzen, und vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2008 in den USA gefordert, dass jedes Medikament, das für die Diabetestherapie zugelassen wird, kardiovaskuläre Sicherheit beweisen muss. Es musste also beweisen, dass es am Herzkreislaufsystem keinen Schaden anrichtet. Die Medikamente konnten im Vergleich die Vorteile zeigen, insbesondere für Herz und Niere, und zusätzlich auch für den Diabetesstoffwechsel. Somit werden diese Medikamente natürlich jetzt in der Diabetologie sehr gern gesehen und auch von Nephrologen und Kardiologen ausgesprochen gern verwendet.  

Mario D. Richardt: Das heißt im Prinzip, dass aber auch jeder moderne Diabetologe diese Medikamente jetzt verschreibt? 

Dr. Thomas Müller: Diese modernen Medikamente sind mittlerweile natürlich in der Versorgungsrealität angekommen und werden von Diabetespraxen, genauso wie von hausärztlichen Kollegen umfangreich angewendet.  

Mario D. Richardt: Dann lassen Sie uns auch noch über die anderen Medikamente sprechen, die es so gibt.  

Dr. Thomas Müller: Es gibt in der Diabetologie Therapiealgorithmen, das bedeutet, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es gibt nie ein richtig und ein falsch, sondern für jeden Patienten verschiedene Therapiestrategien. Allerdings gibt es Wertigkeiten und eines der Basismedikamente ist das sogenannte Metformin. Metformin wurde über Jahre als die Basismedikation in der diabetischen Behandlung bezeichnet und hat nach wie vor diesen Stellenwert. Jedoch in etwas abgeschwächter Wertigkeit. Lebensstilintervention, Ernährung, Bewegung werden wichtiger und wir haben noch einen ganz wichtigen Punkt vergessen, das ist die strukturierte Diabetesschulung, die ganz am Anfang der Krankheitskarriere entstehen soll. Die Schulung bedeutet, dass der Patient in seinem Krankheitsverständnis, in Möglichkeiten unterrichtet wird und seine Ressourcen kennenlernt. Sie kann auch im Verlauf der Therapie hinterfragt, wiederholt und aktualisiert werden und wenn diese Möglichkeiten nicht mehr ausreichend sind, kommt das Metformin als Therapieoption ins Spiel. Metformin ist ein Medikament, dass physiologisch sehr gut wirkt. Es hat im Prinzip vier verschiedene Wirkmechanismen, der eine ist, dass das Metformin die Insulinwirkung verbessert, zum einen an Leber und zum anderen am Muskel, indem es dort die Insulinresistenz positiv beeinflusst. Man weiß, dass das Insulin einen ganz diskret den Appetit zügelnden Effekt hat, beziehungsweise das wird ihm nachgesagt, und es wird etwas mehr Zucker über den Darm ausgeschieden. Das sind also vier physiologische Mechanismen, die dem Metformin zugeschrieben werden und als Basismedikation dann zum Einsatz kommt. Metformin ist gut verträglich, hat aber Nebenwirkung, insbesondere am Magen-Darm-Trakt. Das ist im Prinzip physiologisch erklärt, durch den vermehrten Zuckerstoffwechsel, der durch den Darm geht. Die Nebenwirkungen in Form von Blähungen, Verstopfungen, Durchfällen, Übelkeit sindbei manchen Patienten sehr eindrucksvoll, bei anderen Patienten tritt so was überhaupt nicht auf. Man weiß, dass diese Nebenwirkungen sich lindern, wenn man das Medikament über einen längeren Zeitraum nimmt. Wir sagen immer so sieben bis 14 Tage, wenn danach die Beschwerden noch da sind und dadurch Lebensqualität verloren geht, sollte man überlegen, ob man das Metformin als dauerhafte Therapie einsetzt. Metformin hat noch eine entscheidende seltene Nebenwirkung, auf die man im Vorfeld hinweisen muss. Eine sogenannte Laktatazidose, das ist eine Übersäuerung des Blutes, die, wenn sie nicht erkannt und nicht behandelt wird, einen lebensbedrohlichen Zustand nach sich ziehen kann. Das sind im Prinzip die beiden Nebenwirkungen, die bei Metformin Therapie erwähnt werden müssen.  

Mario D. Richardt: Grundsätzlich ist Metformin trotzdem ja erstmal Mittel der ersten Wahl und meistens auch in Kombination mit anderen Medikamenten, oder? Auch solche, über die wir eben bereits gesprochen haben.  

Dr. Thomas Müller: Das, was ich vorhin versucht hab zu erklären, ändert sich im Moment sehr schnell. Die Diabetestherapiealgorithmen haben in der Vergangenheit immer Metformin an erster Stelle gesehen. Das ändert sich nun tatsächlich, weil man jetzt nicht mehr die blutzuckersenkende Wirkung als zentrales Leitbild hat, die HbA1c-orienterte Therapie, sondern man bedenkt, dass man mit der Therapie kardiovaskuläre Ereignisse, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Durchblutungsstörungen, Nierenschäden, Augenschäden in der Zukunft verhindern will. Je nachdem welches Risiko bei dem Patienten besteht, ist man mittlerweile sehr, sehr schnell dabei, das Metformin zu kombinieren mit entsprechenden Medikamenten, die für die anderen Situationen positive Effekte zeigen konnten.  

Mario D. Richardt: Kann man während einer langjährigen Therapie, wenn man jetzt zum Beispiel hauptsächlich wirklich Metformin bekommen hat, das Ganze auch noch mal umstellen, dass man dann wirklich medikamentös noch mal einen anderen Weg versucht?  

Dr. Thomas Müller: Ganz wichtig, unbedingt ist das notwendig. Die Diabetestherapie zielt darauf ab, dass man seine Therapie, seine Erfolge, seine Behandlungsmethoden und auch die gesamten Begleiterscheinungen immer wieder kritisch hinterfragt und Therapien natürlich verändern und anpassen kann. 

Mario D. Richardt: Kann man bei richtiger Behandlung und Einstellung des Blutzuckers, bei einem Lebensstilwandel und bei einer guten Medikation irgendwann wieder vollständig genesen oder ist das nahezu ausgeschlossen?  

Dr. Thomas Müller: Tatsächlich kann man Diabetes heilen. Man kann Diabetes durch Intervention sowohl medikamentös als auch nicht medikamentös heilen.Die schlechte Nachricht ist, das gelingt nur selten, weil es tatsächlich sehr anstrengend ist. Wenn wir Patienten sehen, die tatsächlich exzessives Übergewicht haben, deren Ernährung komplett ungesund verläuft und Bewegungsmangel im ausgeprägten Maße haben und man die Patienten dazu bewegen oder aktivieren könnte tatsächlich die Chancen zu nutzen durch Ernährungsumstellung, Bewegung und Gewichtsreduktion, dann ist es möglich Diabetes zu heilen. Es ist aber für den Patienten ausgesprochen anstrengend und es ist vor allen Dingen etwas, was auf Lebenszeit umgesetzt werden muss. Die Erfolge sind meistens leider nicht von langer Zeit.. Und dann gibt es natürlich die Patienten, die mit dem genetischen Risiko unterwegs sind. Das heißt, die sind gar nicht so übergewichtig machen eigentlich auch ab und zu Sport und essen gar nicht so ungesund. In den Fällen ist es wahrscheinlich unwahrscheinlicher, dass die sich alleine durch die Lebensstilintervention heilen können. Dort wird man eher zu Medikamenten greifen müssen.  

Mario D. Richardt: So, jetzt zum Schluss vielleicht noch mal angenommen ein Patient kommt zu Ihnen, hat starkes Übergewicht, nicht erblichen bedingten Diabetes und Sie sehen aber gute Heilungschancen, wenn er wirklich seinen Lebensstil um 180 Grad dreht?  

Dr. Thomas Müller: Mir fallen dazu sofort zwei Patienten in meiner Praxis ein, es waren jüngere Patienten mit ausgeprägtem Übergewicht undsicherlich einer genetischen Komponente, weil die Patienten schon mit 35, 40 Jahren hier wegen einer diabetischen Entgleisung vorstellig wurden. Man muss für die Diskussion bedenken, dass wir im Moment von Diabetestherapie sprechen mit zum Beispiel dem Ziel der Gewichtsreduktion. Tatsächlich ist es so, dass Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, mittlerweile als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet  und auch so eingeschätzt wird. Das heißt, es ist nicht zwingend immer möglich und eigentlich selten, dass man die Adipositaserkrankung heilt und auch dort gibt es im Moment medikamentöse Entwicklung, um dem Krankheitsbild Adipositas entgegenzutreten.  

Mario D. Richardt: Wobei man auch sagen muss, nicht jeder der etwas fülliger ist, hat automatisch krankhaft Adipositas, sondern ist einfach nur faul, sage ich jetzt einfach mal so. Aber wenn ein Patient die Möglichkeit hätte, wie oft wird das dann wahrgenommen? 

Dr. Thomas Müller: Wir versuchen ja bei uns in der Praxis die Patienten auch zu motivieren und tatsächlich ist mir selber natürlich bewusst, in was für einer unglücklichen Umgebung wir eigentlich leben, wenn es um das Thema Gesundheit, Diabetes und Übergewicht geht. Auch ich sitze hier acht Stunden am Schreibtisch und wir versuchen das zu durchbrechen, in dem wir in der Mittagspause zum Joggen gehen, auch als Team in der Praxis. Unsere Patienten hier in der Umgebung sehen das und loben uns dafür. Für die meisten Patienten, die ich bei mir in der Praxis sehe, ist das Konzept fast nicht umzusetzen. Die sind mitten im Berufsleben stehend und sagen: „Wir haben zu Hause drei kleine Kinder und jetzt kommen Sie und sagen, ich soll noch am Abend eine Stunde Ausdauerlauf machen.“ Mir istvöllig bewusst, wie schwer das umzusetzen ist, man sollte trotzdem versuchen dem Patienten die Chance zu bieten, dass er das Potenzial darin erkennt, weil das für ihn eigentlich die allerbeste Variante wäre seine Krankheit im besten Fall zu beeinflussen odervielleicht sogar komplett zu beseitigen und es ohne Medikamente theoretisch immer die beste Lösung ist für so eine Situation.  

Mario D. Richardt: Vielen Dank für diese Erkenntnisse, Dr. Müller.  

Dr. Thomas Müller: Von meiner Seite auch vielen Dank für diese spannende Erfahrung.