Jede:r Zweite von uns ist chronisch krank. Sprechen wir darüber. In insgesamt 11 Podcastfolgen geht es um die große Volkskrankheit Diabetes. Wir führen Sie durch jede Phase der Krankheit, damit Sie immer gut informiert sind und heute, in Folge 11 spreche ich mit Betroffenen, die an Diabetes leiden. Wie hat sich ihr Leben seit der Diagnose verändert? Welche Herausforderungen bringt Diabetes mit sich und wie meistert man sein Leben mit Diabetes? Willkommen beim Podcast Chronisch Mensch.

Gerald Lehne (Wurzen)

Anne Jentzsch (Leipzig)         

Transkript der Folge Leben mit Diabetes Betroffenen

Mario D. Richardt: Das Thema der 11. Folge lautet: Ich habe Diabetes. Diesmal will ich also mit Betroffenen ins Gespräch kommen, um zu erfahren, wie sie mit der Krankheit umgehen und welchen Einfluss Diabetes auf den Alltag hat. Wie hat sich der Lebensstil verändert und was ist anderen zu raten, die erst jetzt mit der Diagnose in Kontakt kommen? Dazu habe ich zwei Gäste eingeladen, die sehr unterschiedlich sind. Eine junge Frau mit Diabetes Typ 1 und einen Mann im besten Alter mit Diabetes Typ 2 und mit ihm beginne ich. Mein erster Gast ist Gerald Lehne. Einen schönen guten Tag. 

Gerald Lehne: Schönen guten Tag.  

Mario D. Richardt: Herr Lehne, warum ist es Ihnen persönlich wichtig gewesen, anderen von Ihren Erfahrungen mit Diabetes zu berichten?  

Gerald Lehne: Meine Erfahrungen waren sehr speziell, wenn ich zurückschaue. Ich habe 2009 mit meiner Frau ein Projekt gemacht, wo ich von Görlitz bis zu meiner Heimatstadt nach Wurzen gepilgert bin, das spielt gleich noch eine Rolle, deswegen steige ich da ein. Und 2010, ich war in der Stadtverwaltung in Wurzen beschäftigt, als technischer Bürgermeister und war so richtig schön im Hamsterrad. Jeden Tag hat ein Termin den anderen gejagt, immer voll im Stress, vollgepowert, Vollgas, kaum zum Luftholen gekommen, kein Sport gemacht, gegessen, wenn zwischendurch mal Zeit war und dann bin bei mir im Büro und merke im Laufe des Vormittags, wie ich am Rechner sitze und mein Augenlicht weggeht, dass ich plötzlich, wie durch eine Milchglasscheibe alles sehe, nichts mehr scharf erkennen kann. Ichhabe es mit der Angst bekommen, bin direkt zu meinem Hausarzt und habe das Glück gehabt, dass ich gleich weitergeleitet wurde, und zwar an Frau Dr. Woitek. Das war wirklich ein Glück, wenn ich es im Nachhinein betrachte. Frau Dr. Woitek hat mich in der Sprechstunde getestet und da waren Werte von über 30, da schlugen die Geräte nicht mehr richtig an. Also ich war richtig schön runter und wir haben noch dort in der Sprechstunde angefangen mich zu spritzen und sie hat mir damals angeboten, mich ambulant zu behandeln. Das heißt, ich habe eine kurze Erklärung gekriegt, zu den unterschiedlichen Spritzen und bin dann nach Hause, habe vor jeder Mahlzeit getestet, sie angerufen, das Testergebnis mitgeteilt und sie hat mir gesagt von welcher Spritze ich wie viel spritzen soll. Dann habe ich gegessen, eine Stunde nach dem Essen wieder getestet, wieder angerufen, sie hat mir wieder gesagt, welche Dosis ich spritzen soll, und so haben wir die ersten Tage versucht mich einzustellen. Mich hat dieses Spritzen unheimlich genervt und dieses dauernde Testen vor und nach jedem Essen. Das war für mich so was Furchtbares, aus heiterem Himmel und da bin ich zum Glück zu ihr gekommen. Sie hat mich so ein Stückchen ernst genommen, dass mich das Ganze unheimlich angestunken hat, mit diesen Spritzen und mit diesem dauernden Testen und hat mir Wege aufgezeigt, wie es anders gehen kann. Und da war der erste Punkt eben die Ernährung.  

Mario D. Richardt: Die Ernährung. Sie haben also im Prinzip dann wirklich so ein Warnschuss bekommen, waren genervt von dem Spritzen. Wie lange haben Sie das gemacht, mit dem Spritzen? 

Gerald Lehne: Ich habe es mehrere Monate gemacht. 

Mario D. Richardt: Also doch schon sehr lang.  

Gerald Lehne: Ja, auch mit unterschiedlichen Ergebnissen, dann noch mal nachgesteuert aber die Ernährung an sich hat schon unheimlich geholfen. Ich habe versucht ganz konsequent alles, was Limo oder Saft ist, komplett wegzulassen, alles, was weißes Mehl ist komplett wegzulassen. Man glaubt gar nicht, wie schwierig es am Anfang ist, wenn man reine Roggenprodukte sucht, auch in den verschiedenen Lebensmitteldiscountern. Die meisten, die haben zwar einen gewissen Roggenanteil, aber wenn ich sage, ich möchte reine Roggen- oder reine Dinkelprodukte ist das schwierig. Und ich bin auch ein Schlemmermaul, also so Kuchen und mal ein Eisbecher und so, das lag mir schon sehr. Da muss ich konsequent nein sagen und immer wieder, denke an Deine Werte, das ist jetzt nicht gut, Dich mit Zucker vollzupumpen sagen. Wenn ich Stress hatte, mal schnell eine Tafel Schokolade, die hat schon ganz gut geholfen, um dann noch mal über den Berg zu kommen.  

Mario D. Richardt: Aber das hat Sie wahrscheinlich erst dahin gebracht?  

Gerald Lehne: Natürlich, also Frau Dr. Woitek hat gesagt, langanhaltender Stress und Ärger wäre der Auslöser gewesen. 

Mario D. Richardt: Langanhaltender Stress, ja klar, als Politiker, dazu muss man sagen, Sie sind stellvertretender Landrat des Landkreises Leipzig, da hat man ordentlich Stress.  

Gerald Lehne: Aber inzwischen denke ich, kann ich damit umgehen, etwas besser. Es gelingt nicht immer, aber zumindest häufiger. Ich würde noch mal zurückkommen, auf 2010, weil ich hatte vorhin gesagt, 2009 waren wir pilgern von Görlitz bis nach Wurzen. Und diesen Pilgerweg in Sachsen, den habe ich mit geholfen zu verwirklichen, habe praktisch für die Umsetzung hier in Wurzen Raum gesucht, habe Pilgerherbergen mitgeschaffen, mit den Vertretern der Kirchen, die angesprochen, mich ein Stück drum gekümmert, wo der Weg lang geht, zur Ausschilderung und so weiter. Also es war mir schon ein Herzensprojekt, deswegen war ich das erste Stück auch gelaufen. Nur war ich Diabetiker und hatte mit meiner Frau überlegt, ob wir das nächste Jahr 2010 weiterlaufen. Habe ich mit der Frau Dr. Woitek besprochen und sie hat mir gesagt, es steht dem eigentlich nichts entgegen, aber ich soll unheimlich aufpassen, meine Werte, die werden Achterahn fahren, wenn ich als so überzeugter Schreibtischtäter, den ganzen Tag nur am Schreibtisch sitzen, keine Bewegung, so was mache. 

Mario D. Richardt: Von 0 auf 100.  

Gerald Lehne: Von 0 auf 100 wieder und wir hatten so ein Tagesrhythmus vorher gehabt, den haben wir dann auch beibehalten, dass wir versucht haben, am Tag so um die 30 Kilometer zu laufen. Später dann auch 40, 45 pro Tag, also wir sind wirklich straff gelaufen, mit unserem Gepäck. Sie glauben gar nicht, wie die Zuckerwerte nach unten gingen, mit der körperlichen Bewegung, und zwar so schlimm, das innerhalb weniger Stunden schon am ersten Tag mir schwarz wurde vor Augen. Ich war unterzuckert und ich hatte zum Glück entsprechende Tabletten mitgenommen und Traubenzucker, um mir da drüber zu helfen. Wir hatten dann auch immer ein, zwei Äpfel mit im Rucksack und dann bewusst auch versucht, wenn irgendwo was war, wenn ich merkte, die Werte gingen herunter, vorher zu messen. Hier in Deutschland ging das auch noch, dass wir irgendwo mal eine Cola gefunden haben, um die Werte wieder hochzukriegen, um weiterlaufen zu können. Das war dann auch ganz angenehm für mich und ich habe dann während dieser Pilgertage, wir sind in dem Jahr bis nach Vacha gekommen, an die thüringisch-hessische Grenze, gar keine Medikamente mehr gebraucht und trotzdem waren meine Zuckerwerte wunderbar unten. Ich habe bei dieser Pilgertour mehrere Kilo abgenommen, das kam dem Körper auch zugute. 

Mario D. Richardt: So schnell ging das dann bei Ihnen? 

Gerald Lehne: Das ging sehr schnell, ja.  

Mario D. Richardt: Wie viele Tage waren Sie insgesamt unterwegs?  

Gerald Lehne: Waren drei Wochen unterwegs.  

Mario D. Richardt: Und in diesen drei Wochen haben Sie im Prinzip, ich kann jetzt nicht sagen, den Diabetes besiegt, aber Sie haben Ihren Körper sozusagen auf Hochtouren gebracht und selbst dafür gesorgt, dass es Ihnen besser geht?  

Gerald Lehne: Ja, und das auch als ich danach wieder in den Alltagsrhythmus zurückmusste. Ich muss meinen Job irgendwo erfüllen und man kommt auch abends nicht dazu irgendwo Sport zu machen, weil abends sitzt man in irgendwelchen Versammlungen herum, wo man auf Leute trifft, die den festen Willen haben, die Welt zu verbessern und man muss da zumindest zuhören. Mitunter sind ja auch wichtige Ideen dabei, aber man muss auch, wenn man Demokratie ernst nimmt, bei solchen Veranstaltungen regelmäßig dabei sein und so was mit aufsaugen, allerdings kommt man aber eben nicht dazu abends sich irgendwie noch groß zu betun. Was ich gemacht habe, wenns es ging, ist abends einfach noch mal 10 Minuten spazieren gehen. Also auch selbst sowas hilft, aber was ich für viel wichtiger halte, ist,  dass man auf jeden Fall konsequent auf seine Ernährung achten sollte und wenn es geht, auf ein bisschen Bewegung. Ich denke, das ist das Schlüsselstück und ich habe nach dieser Pilgerreise mit der Frau Dr. Woitek gesprochen und sie hat gesagt, ich bin jetzt so gut, sie kann die Spritzen wegnehmen. Ich hatte es erreicht. Sie hat mich zurück einstellen können und das war für mich ein Riesenlebensgewinn endlich nicht vor jeder Mahlzeit die Messung machen zu müssen, nach jeder Mahlzeit messen zu müssen, sondern einfach meine Tabletten einzuwerfen. Damit konnte ich viel besser leben, viel besser umgehen.  

Mario D. Richardt: Und das in drei Wochen. Das ist Wahnsinn.  

Gerald Lehne: Aber es waren natürlich auch extreme körperliche Belastungen und ich denke im Nachhinein, ich bin jetzt kein Arzt, aber die Bauchspeicheldrüse war ausgefallen, sie war aber erst seit kurzem ausgefallen und sie ist durch diesen Sportschub vielleicht ist ein Stückchen wieder angesprungen oder zumindest hat der Körper sich irgendwo selber geholfen. Ich fand das eine super Erfahrung und ich denke, dass ich auch in meiner Position, die ich ausfülle, mit allem, was ich mache, mit dieser Lebensgeschichte, anderen, die Diabetes haben, das mitzuteilen sollte und sagen, überlegt mal, was bei Euch geht.  

Mario D. Richardt: Na gut, jetzt kann nicht jeder 30 Kilometer am Tag marschieren, aber ich denke, man kann anfangen sich auf jeden Fall zu bewegen.  

Gerald Lehne: Ich denke, das ist auch das wichtige, es kommt nicht drauf an, ob man 30 Kilometer geht oder vielleicht 45 Kilometer. Also wir haben die Jahre darauf fortgesetzt, das wurde dann ein 10-Jahresprojekt bis wir durch ganz Deutschland, ganz Frankreich, ganz Spanien zu Fuß durch sind, bis Santiago de Compostela und am Ende bis  ans Ende der Welt, bis an den Atlantik. Das war ein Superprojekt, es hat jedes Jahr meinen Zuckerwerte ein Stückchen geholfen, es hat jedes Jahr wieder paar Kilo, die zwischendurch drauf gekommen waren, wieder heruntergeholt. Auch von der Seite her war es gut und ich denke so im Nachhinein, insgesamt, über die 10 Jahre, auch als Langzeitprojekt, sich immer mal körperlich zu betun, sich gleichzeitig immer mal wieder sich dran zu erinnern, wie ist es denn mit der Ernährung? Wie oft sündigt man denn? Weil es kommen ja Geburtstage dazwischen und anderes und man muss da einen gesunden Mittelweg finden, aber am Anfang ist eine gesunde Konsequenz und sich regelmäßig damit zu beschäftigen, denke ich, schon sehr wichtig.  

Mario D. Richardt: Lassen Sie mich noch mal ganz an den Anfang springen. Wie alt sind Sie jetzt?  

Gerald Lehne: 58. 

Mario D. Richardt: Also war das dann 2010, also im Prinzip waren Sie ja wirklich ein sehr junger Mann noch, zu dem Zeitpunkt, als Sie die Schockdiagnose bekommen haben. Haben Sie das wirklich so als Schocknachricht auf aufgenommen? 

Gerald Lehne: Es war ein absoluter Schock für mich. Ich habe niemanden in meinem Umfeld, der mit Diabetes zu tun hat, zumindest zum damaligen Zeitpunkt nicht, hatte keinen Kontakt. Das war für mich immer so eine Krankheit von irgendwelchen alten Leuten, die sich dann eine Spritze reinjauchen und dadurch ihr Leben verlängern. Und dass das so viele junge Leute auch betrifft, das habe ich erst als Betroffener dann selber mitbekommen.  

Mario D. Richardt: Mit welchen Gedanken sind Sie denn nach Hause gegangen, nach der Diagnose?  

Gerald Lehne: Als Frau Dr. Woitek mir gesagt hatte, was ich alles nicht darf, rauchen ist ungesund, habe ich damals auch noch, keine Süßigkeiten, keinen Alkohol, da habe ich ihr gesagt: „Wissen Sie was? Da kann ich mich doch gleich erschießen. Für das bisschen Sex lohnt es sich doch nicht zu leben“ und dann hat sie gesagt: „Das werden Sie doch nicht tun?“ Und dann haben wir eigentlich so ein Stückchen gedealt und ich habe gesagt, weil ich so ein Freund davon bin: „Lassen Sie mir doch wenigstens einen Whisky ab und zu“ und einen guten Whisky ab und zu, das kann sie mir schon zugestehen. Ich sage: „Und sonst?“ Ja, wenn es trockner Wein ist, ab und zu ein Glas oder eine Weinschorle, das sollte auch gehen. Aber ich glaube, wir waren uns beide einig, dass es immer um ein Glas ging und nicht um größere Mengen und regelmäßig. Und ja, es ist schon schön, wenn man bei ein paar Familienfeiern oder so ein kleines bisschen mittrinken kann aber ich habe auch gemerkt, und ich sehe das auch bei vielen im Bekanntenkreis, gerade mit Bier und viel Bier, dass das nicht gut ist. Und ganz viele Diabetiker haben unheimlich mit ihrem Gewicht zu kämpfen und erhöhtes Gewicht, ich bin ja auch nicht der Schlankste, ist auch so eine Schlüsselstelle bei dem Diabetes. Wenn man das nicht in den Griff bekommt und sich regelmäßig ein Stückchen auf die Waage stellt und den inneren Schweinehund bekämpft, dann ist das so eine Endlosschleife und schraubt sich immer höher. Und es wird immer schlimmer und am Ende ist man wieder bei dem Punkt, dass die Dosen, die man spritzen muss, dann gehen wir wieder zum Spritzen über, immer mehr werden. Ich bin der Überzeugung, dass alles, was wir an Medikamenten einnehmen, in dem Moment etwas lindert, aber auch ein Stückchen Gift ist, für den Körper. Der Körper agiert zwischen dieser Diabetes und den Gegengiften, die uns der Arzt gibt, um unser Leben zu verlängern. Und umso geringer die Medikamentendosis ist, die wir wirklich brauchen, umso länger leben wir wahrscheinlich auch. Das hat jeder so ein Stückchen in der Hand, wenn er so überlegt, wie stellt er sein Leben ein? Wie bewusst geht er mit dem Diabetes um und wie viel Jahre will er denn noch leben? Weil ich seh das ja auch hier in der Praxis, wenn dann Fälle da sind mit offenen Beinen, mit abgenommenem Bein und solche Sachen, da bin ich ja im Moment weit davon entfernt, aber das möchte ich natürlich auch bleiben.  

Mario D. Richardt: Ja und im Prinzip ist ja damals dann mit der Diagnose auch für Sie eine Welt zusammengebrochen, das haben Sie auch schon so gesagt, aber haben Sie es dann wirklich gleich als ernstzunehmende Erkrankung wahrgenommen, die also auch schwerwiegende Folgen haben kann? Wie Sie gerade sagen, da sind Menschen, mit offenem Bein, da muss amputiert werden.  

Gerald Lehne: Wo mein Augenlicht damals wegging, da ist mir richtig Angst geworden und deswegen bin ich mit diesem Schock der Selbstwahrnehmung ja schon zum Arzt gegangen. Und dort habe ich schon versucht alles aufzusaugen, was mir gesagt wurde und ich bin nur ganz froh, andere Ärzte arbeiten ja mit Punktesystem und so was, das ist alles unheimlich kompliziert, dass das Frau Dr. Woitek zum Glück alles weggelassen hat und mir einfach gesagt: „Versuch den Zucker so weit wie möglich zu reduzieren und auch den ganzen versteckten Zucker“. Das ist ja gerade, alles, das was gut schmeckt, Bananen, Weintrauben und so, auch wenn man um den ganzen Fruchtzucker geht, alles das, was so richtig wunderbar für einen Rundschlag sich eignet, ist eigentlich was, was man nicht so zu sich nehmen sollte oder nur in geringen Dosen.  

Mario D. Richardt: Ja, aber mittlerweile machen Sie das nun schon einige Jahre und Sie haben mit Sicherheit auch gute Alternativen schon gefunden.  

Gerald Lehne: Die Menge macht es und wenn ich beim Durst zum Beispiel mir ein Schöfferhofer Glas voll Wasser fülle und dort oben zwei Zentimeter Saft drauf fülle, dann habe ich einen guten Saftgeschmack drinnen aber ich habe nicht diese Riesenzuckerdosis, die ich drinnen hätte, wenn das ganze Glas voll Saft wäre. Und inzwischen ist es so, dass ich das durchaus genieße und mir das auch gut schmeckt und wenn ich jetzt puren Saft trinke, dass der mir eigentlich zu süß ist.  

Mario D. Richardt: Wie machen Sie es denn, als Politiker wird man häufig auch eingeladen zu Veranstaltungen, da gibt es häufig auch Buffet, schlagen Sie da dann richtig zu und haben am nächsten Tag ein schlechtes Gewissen oder haben Sie sich im Griff und sind es dann doch sie kleinen Mozzarella-Tomaten-Häppchen, die Sie dann anlächeln, auf dem Teller?   

Gerald Lehne: Also Sekt trinke ich so gut wie gar nicht, da müsste wirklich sehr viel passieren, dass ich da überhaupt nippe. Also ich versuche schon konsequent nach Wasser zu greifen, wenn die Tabletts rund herumgehen. Zum Glück bin ich als Vizelandrat mehr der allgemeine Verwaltungsleiter und mein Landrat ist der, der jeden Tag die Probleme hat, mit den Häppchen, sodass ich da nicht ganz so in Versuchung komme, aber ich denke, dass man auch dort ein Stückchen schauen kann und am Ende ist es ja das eine halbe Brötchenauch nicht die Riesendosis, die das Gift macht. Dann isst man ein halbes Brötchen mit, man guckt natürlich ein Stückchen auf den Belag, aber man macht eben nicht Rundschlag und isst dann zu Hause noch was, wo man ganz bewusst sich wieder entscheiden kann, was nehme ich denn hier aus dem Kühlschrank.  

Mario D. Richardt: Und zu Hause machen Sie es also wirklich bewusst? Sie haben schon gesagt, im besten Fall natürlich dann Roggen-, Vollkornprodukte, die ganz gesunde Ernährung und auch das Problem, was Sie auch schon gesagt haben, häufig weiß nicht mal die Bäckereiverkäuferin, wo ist jetzt eigentlich Vollkorn drin?  

Gerald Lehne: Das ist leider so, dass dieselbst dort Probleme hat, aber wir haben bei uns sehr gute regionale Bäcker, die gutes Roggenbrot backen und auch schon wunderbar Roggenbrötchen. Ja, dann muss man die paar Kilometer mal weiter fahren und das von dort holen, wenn es andere nicht so im Angebot haben.  

Mario D. Richardt: Wir brechen das noch mal herunter, am Anfang Insulin gespritzt, das hat Sie genervt, Sie haben dann für sich den Weg gefunden und sind jetzt immer noch, nach 10 Jahren davon weg? Das ist ein großer Erfolg.  

Gerald Lehne: Ich sehe das auch so, aber ich weiß auch, dass man immer was machen muss dafür und genau deswegen, weil ich auch andere Diabetiker inzwischen kenne, die sich so schnell fallenlassen, war ich auch bereit mich mitzuteilen. Normalerweise ist man immer ein bisschen zurückhaltend in meiner Stellung und gibt nichts Persönliches so schnell preis, aber ich denke, es ist ganz gut, wenn ich trotz und gerade in meiner Funktion den Leuten sage, kämpft und kämpft jeden Tag, nehmt diesen Kampf auf, es lohnt sich. Es ist am Ende ein Stückchen Lebensqualität, die Ihr zurückgewinnt, und vor allem auch langfristig sind esvielleicht ein paar Lebensjahre mehr, die Ihr habt, als wenn Ihr Euch dort ein Stückchen aufgebt. Man kann ganz gut mit Diabetes leben, denke ich schon.  

Mario D. Richardt: Das macht auch Hoffnung, so wie Sie es erzählen. Wie hat denn Ihr soziales Umfeld auf die Krankheit reagiert? Weiß das eigentlich so jeder, auch bei Ihnen da im Kollegenkreis? Wie hat die Familie reagiert?  

Gerald Lehne: Die Familie war sehr erschrocken, sie haben es dann ziemlich schnell verstanden. Wenn ich Geburtstag habe, gibt es für mich speziell gebacken, eine Klopstorte.  

Mario D. Richardt: Eine Klopstorte?  

Gerald Lehne: Dass ich nicht so in der Versuchung erliege, überall so eine dicke Sahnetorte zu essen, mit ganz normalem Blätterteig, Dinkelteig oder Roggenteig und dann lauter kleine Klöpschen drauf, aus Hackfleisch, mit Weingelee.  

Mario D. Richardt: Das klingt auch sehr lecker.  

Gerald Lehne: Das denke ich schon und die wird dann gezielt für mich gemacht, auch wenn andere Geburtstag haben, ist da mitunter eine Klopstorte mit auf dem Tisch und so was kann man durchaus machen. Gerade dann, wenn die Werte nicht so gut sind. Wenn man sich körperlich etwas bewegt, wenn man zum Beispiel beim Holzhacken ist und, wir machen viel Waldarbeit, man ist in so einer Phase drin, dann spricht da überhaupt nichts dagegenauch mal ein oder zwei Stück Kuchen zu essen, weil der Körper verbrennt es doch in dem Moment. Dann bin ich wieder ähnlich, wie in meiner Pilgertour. Ich habe eine erhöhte, körperliche Aktivität und dann wird manches mit weggebrannt, ohne dass es dem Körper schadet.  

Mario D. Richardt: Aber wenn Sie wieder in Ihrer politischen Position im Büro sitzen und dann kommt jemand aus dem Nachbarbüro vorbei, hat Geburtstag, bringt die Torte vorbei, sagen Sie da auch mal nein und wie sind dann die Reaktionen darauf?  

Gerald Lehne: Ach wissen Sie, wenn man Chef ist und nein sagt, dann muss man sich nicht so erklären, das ist vielleicht der Vorteil. Man hat auch kein schlechtes Gewissen, ne, das geht schon.  

Mario D. Richardt: Gibt es denn, außer der Ernährung, weitere Einschränkungen in Ihrem Leben?  

Gerald Lehne: Also worauf ich achte ist, dass man regelmäßig was isst. So was wie früher, den ganzen Tag nur durch und statt Mittagessen zwei Liter Kaffee, das geht nicht. Ich versuche dann ganz gezielt irgendwo mir was zu Essen zu besorgen. Wir haben zum Glück eine Kantine bei uns im Hause, in der Verwaltung und ich achte unheimlich drauf, dass das Stresslevel nicht zu hoch wird. Wenn ich vor dem Rechner sitze und merke, es geht nichts mehr, das kennt jeder, man liest einen Text herunter, ist unten angekommen und überlegt, was hat man da gerade gelesen? Und fängt irgendwo an und ist das zweite Mal unten angekommen und hat immer noch nicht richtig mitgekriegt, was stand denn in dem Absatz drin,dann musst Du einfach mal Schluss machen. 

Mario D. Richardt: Das heißt, dann gehen Sie nach Hause, oder? 

Gerald Lehne: Wenn es später Nachmittag ist, da kommt manchmal der Punkt, setze ich mich ins Auto und fahre zurück nach Wurzen und meine Familie weiß in dem Moment schon, wenn ich zu Hause ankomme, möchte ich auch nicht gestört werden. Also ich möchte nicht, wenn ich zu Hause durch die Tür komme und meine Frau kommt mir mit Problemen entgegen, dann reicht meistens schon ein Blick, weil das ist dann zu viel. Also ich will erst mal aus dem schwarzen Anzug heraus, will in meine Jeans rein, T-Shirt anziehen, in Ruhe herunterkommen, vielleicht einen kleinen Happen essen, durch die Post mich durchgraben und irgendwann danach bin ich auch wieder gerne bereit zuzuhören. Wenn ich im Büro bin, versuche ich in dem Moment Termine einzutakten, in anderen Häusern, gehe zu einem Amtsleiter, der zwei Häuser weiter sitzt, nehme bewusst den Weg zu Fuß oder mache es telefonisch, so, nehme mir dann die paar Minuten.  

Mario D. Richardt: Tief durchatmen.  

Gerald Lehne: Fußweg. 

Mario D. Richardt: Ja.  

Gerald Lehne: Ja oder was ich auch schon gemacht habe, immer wenn es am Vormittag war, zwischen zwei Terminen einfach mal eine halbe Stunde das Haus verlassen, einfach mal draußen ein Stückchen spazieren gehen oder so, einfach wieder herunterkommen, um nicht wieder in dieses Hamsterrad so hereinzukommen. Und natürlich auch ein gewisses Terminmanagement, wo Du sagst, Du musst wirklich nicht einen Termin auf den nächsten drauf schieben, sodass sie sich schon überlagern, sondern versuchen, ja Pausen sind es ja nicht, am Ende kommt ja normales Tagesgeschäft rein, aber es ist nicht so ist, dass es dann überläuft.  

Mario D. Richardt: Die Termindichte ist nicht mehr so hoch wie früher? 

Gerald Lehne: Ja, auch mal was delegieren oder mal was liegen lassen. Am Ende ist das nicht so schlimm. Das merkt man schon. Also man sagt ja manchmal als Beamter, 80 Prozent erledigen sich durch Zeitablauf, so ist es leider nicht ganz, aber ich denke schon, dass manche Sachen wesentlich wichtiger genommen werden, als sie am Ende sind. Und dann muss man auch schon ein Stückchen zu sich selber so ehrlich sein und sagen, entscheide es doch einfach mal, Du lebst nur einmal.  

Mario D. Richardt: Wie häufig sind Sie denn heutzutage noch in ärztlicher Behandlung?  

Gerald Lehne: Ich lasse mich jedes Vierteljahr mal sehen. 

Mario D. Richardt: Und dann gibt es einen Schlag auf die Schulter, haben Sie gut gemacht?  

Gerald Lehne: Weniger, weil die Werte nicht wirklich besser werden. Dazu ist meine körperliche Aktivität zu schlecht, aber ich bin so beim Status quo und mein Gewicht kontrolliere ich selber mehrmals die Woche., Da brauche ich ja nicht auf der Waage zu stehen. Ja, ich hole nur meine Rezepte und dann ist gut.  

Mario D. Richardt: Gibt es denn schon Vorerkrankungen, mit denen Sie jetzt leben müssen? 

Gerald Lehne: Ne.  

Mario D. Richardt: Noch nichts. Haben Sie davor Angst?  

Gerald Lehne: Ich habe Angst davor aber ich habe im Moment keinerlei Anzeichen. Also auch die Durchblutung der Beine ist noch gut und alles, sodass ich nicht denke, dass es mich die nächsten Jahre da wirklich schon erwischt. Das sollte mich überraschen. Ich lebe nun so gut 10 Jahre gut damit und ich denke, solange wie ich mich an meine Spielregeln halte und da ein bisschen achtsam bin und noch ein Stückchen in mich herein horche, geht das ganz gut.  

Mario D. Richardt: Dann ist es jetzt Zeit für Ihr Schlussplädoyer. Was möchten Sie anderen sagen, die vielleicht jetzt in diesen Tagen oder Wochen die Diagnose Diabetes mellitus bekommen?  

Gerald Lehne: Es ist ein Schock, aber es ist kein Weltuntergang. Und wenn Sie sich selber helfen, mit Ihrern Partnern, ich denke, das ist ein Stückchen wichtig, dass die Familie oder Freundeskreis ein Stückchen mitziehen, das Ganze verstehen und auch ein Stückchen mithelfen, ist da vieles möglich. Also ich habe seitdem zumal kein Jägermeister mehr getrunken, obwohl ich begeisterter Jäger bin und im Wald an den Streckenplätzen überall die Kräuterflaschen rundum gehen, aber dieses süßes, klebrige Kräuterzeug, das ist für mich so ein Punkt, wo ich gesagt habe, da gibt es für mich keine Kompromisse. Den trinke ich eben nicht mehr, das gehört mit dazu. Ich möchte weiter so leben. Ich möchte, wobei es mir im Alter vielleicht irgendwann trotzdem so passieren wird,solange wie möglich  mit den paar Tabletten leben, ohne, dass ich mich regelmäßig dreimal am Tag spritzen muss und das regelmäßig kontrollieren muss.  

Mario D. Richardt: Ich danke Ihnen, Herr Lehne, für die offenen Worte. Alles Gute.  

Gerald Lehne: Danke.  

Mario D. Richardt: Weiter geht es jetzt mit einer jungen Frau, die auch Diabetes hat, aber bei ihr ist es Typ 1 Diabetes. Sie ist 21 Jahre jung und ich bin gespannt, welche Erfahrungen Sie mit Diabetes hat und wie sich das Leben im Vergleich zu Diabetes Typ 2 Erkrankten unterscheidet. Guten Tag, Anne Jentzsch.  

Anne Jentzsch: Hallo.  

Mario D. Richardt: Schön, dass Du Zeit für mich hast. Jetzt sage ich Du, ist das okay für Dich, wenn wir uns duzen?  

Anne Jentzsch: Ja, das ist vollkommen okay.  

Mario D. Richardt: Warum hast Du denn spontan zugesagt, als ich fragte, ob Du über die Krankheit erzählen würdest?  

Anne Jentzsch: Ich finde das Format Podcast sehr interessant, ich höre gerne in meiner Freizeit Podcasts und Diabetes liegt mir halt auch sehr am Herzen, zumal ich vorhabe später mal, also ich studiere gerade Medizin, als Allgemeinmedizinerin zu arbeiten und da auch Diabetologin zu werden und natürlich auch Patienten mit Typ 1 Diabetes und Typ 2 Diabetes zu behandeln.  

Mario D. Richardt: Das kann natürlich ein großer Vorteil sein, ne? Also, wenn Du selbst davon betroffen bist und dann Diabetologin.  

Anne Jentzsch: Genau.  

Mario D. Richardt: Ich drücke die Daumen.  

Anne Jentzsch: Danke.  

Mario D. Richardt: Du bist jetzt 21, wann hast Du denn die Diagnose bekommen, dass Du Diabetes hast?  

Anne Jentzsch: Genau, da war ich 13 Jahre alt und es war kurz nach dem Sommerurlaub, da erinnere mich noch dran. Ich habe halt schon die klassischen Symptome gehabt, also ganz, ganz viel Durst, sehr viel getrunken, ich habe auch abgenommen, aber das fiel damals nicht sehr auf, weil ich sowieso eher untergewichtig war und ich war halt dementsprechend auch viel auf Toilette mit dem vielen trinken. Dann war ich bei einer Jugendvorsorgeuntersuchung, die macht man dann in regelmäßigen Abständen quasi, und da war alles in Ordnung bis auf mein Blutzucker, der lag bei 15,3 Millimol, das weiß ich auch noch ganz genau. Das ist halt deutlich über dem Normalbereich und da haben wir dann noch mal gemessen, weil wir dachten okay, vielleicht war an dem Finger irgendwas Süßes dran aber das war nicht der Fall und dann bin ich quasi direkt ins Uniklinikum eingewiesen worden und wurde dann in der nächsten Woche da eingestellt.  

Mario D. Richardt: Wie groß war dann die Zeitspanne so zwischen den ersten Symptomen bis hin, dass die Diagnose feststand?  

Anne Jentzsch: Das war gar nicht so lange, das waren vielleicht ein Monat, zwei Monate.  

Mario D. Richardt: Was hat die Diagnose für Dich bedeutet? Hast Du gleich gewusst, was da auf Dich zukommt?  

Anne Jentzsch: Ne gar nicht.  

Mario D. Richardt: Du warst noch ein Kind? 

Anne Jentzsch: Ich war noch ein Kind und ich hatte auch, also in meiner Familie hat niemand Diabetes Typ 1. Meine Großeltern haben Typ 2 Diabetes aber das ist ja eine ganz andere Geschichte. Ich wusste nicht wirklich was auf mich zukam aber das habe ich dann in der Woche im Krankenhaus gelernt, zumal ich sogar neben einer jüngeren Patientin lag, die aber eben schon mehrere Jahre Diabetes Typ 1 hatte und die konnte mir da so ein bisschen helfen.  

Mario D. Richardt: Aber hast Du denn als 13. Jährige sofort realisiert, was da in Deinem Körper nicht mehr funktioniert, warum das Ganze ist?  

Anne Jentzsch: Definitiv nicht, also wir hatten, ich war dann in der achten Klasse, in der siebten Klasse im Biologieunterricht schon mal drüber gesprochen, deswegen hatte ich schon so ein bisschen so von diesem Schlüsselschlossprinzip und Insulin, was dann quasi dem Blutzucker die Toren öffnet, um in den Muskel zu kommen, gehört, aber halt nicht so die Implikation, die es auf mein eigenes Leben hatte. Das war mir nicht klar.   

Mario D. Richardt: Und dann warst Du eine Woche im Krankenhaus, da wurde es eingestellt? 

Anne Jentzsch: Genau, da habe ich angefangen Insulin mir über so einen Pen zu geben. Also das ist quasi eine Spritze und da musste ich mir dann immer Langzeitinsulin früh und abends spritzen und über den Tag verteilt, immer zu den Mahlzeiten Kurzzeitinsulin geben. Genau, damit haben wir dann dort begonnen.  

Mario D. Richardt: Das konntest Du machen, ja? Also meine Tochter ist zum Beispiel neun Jahre alt, die hat mörderische Angst vor Spritzen und, dass Du es mit 13 geschafft hast, Dich da selbst zu piksen, das ist wirklich erstaunlich.  

Anne Jentzsch: Ja, dazu kam ja dann auch noch, dass man ja dann immer regelmäßig Blutzucker messen musste. Also in den Finger piksen und dann so einen Blutstropfen auf so ein Messstreifen geben. Es war schon eine Kombination für sich aber ich habe auch damals schon mit dem Gedanken gespielt, später mal in den medizinischen Sektor zu gehen und ich weiß, ich kann mich noch ganz genau dran erinnern, wie eine Lehrerin zu mir meinte, weil ich auch eine relativ gute Schülerin war: „Ich bin fast froh, dass es Dich getroffen hat von den Schülern, weil Du so verantwortungsbewusst bist“ und ich weiß auch noch, dass ich damals aber nicht wusste, was ich davon halten sollte. 

Mario D. Richardt: Wie hat denn Deine Familie reagiert?  

Anne Jentzsch: Da erinnere ich mich auch noch dran, wie meine Mama und ich, wie wir am Krankenhaus saßen, als wir diese Information bekamen, dass ich jetzt wirklich Typ 1 Diabetes habe und wie wir beide erstmal geweint haben, auch wenn wir noch gar nicht wussten, was alles auf uns zukam, aber es war halt so ein Moment. Irgendwie verändert sich gerade mein Leben und nichts ist mehr, wie es mal war. Also am Anfang war es halt schon sehr so, dass wir wirklich jedes Essen abgemessen haben, dass wir alle Teller bei uns durchgewogen haben zu Hause und halt auch bei jeder Mahlzeit wirklich davor überlegt haben, wie viele Einheiten muss ich jetzt spritzen? Aber das ist dann, je älter ich auch wurde, je selbstständiger ich damit auch umgehen wollte, besser geworden. Und ja, ist es jetzt irgendwie Teil meines Lebens.  

Mario D. Richardt: Das geht ja im Prinzip auch nie wieder weg. War Dir das gleich klar? 

Anne Jentzsch: Das wurde mir dann auch direkt gesagt und es war mir auch in dem Fall klar. Das hat mir auch damals der Oberarzt sehr gut auf der Station erklärt, dass halt zu dem Zeitpunkt, zu dem der Diabetes dann wirklich ausbricht und festgestellt wurde, schon 90 Prozent der Betazellen in dem Pankreas, also in der Bauchspeicheldrüse quasi zerstört waren, bevor halt wirklich diese Symptome erstmal kamen. Und, dass es quasi jetzt ein Prozess war, der nicht mehr rückgängig machbar war und genau, deswegen war mir das dann schon klar, oh.  

Mario D. Richardt: Also Deine Bauchspeicheldrüse ist im Prinzip außer Betrieb.  

Anne Jentzsch: Also meine Bauchspeicheldrüse funktioniert schon noch, aber halt nicht dieser endokrine hormonelle Teil. Sie produziert kein Insulin mehr.  

Mario D. Richardt: Wie reagieren denn Menschen zum ersten Mal, wenn die von Dir erfahren, dass Du Diabetes hast? Denn für viele ist ja der Begriff Diabetes irgendwie auch so verbunden mit alte Menschenkrankheit.  

Anne Jentzsch: Also ganz unterschiedlich. Gut, in meinen Kreisen ist es halt so, dass viele damit schon irgendwie mal Kontakt hatten, weil sie eben auch im Krankenhaus irgendwie schon gearbeitet haben oder auch einfach schon im Lehrbuch dazu was gelesen haben. Aber ich habe auch natürlich andere Freunde oder andere Bekannte und da hat sich am Anfang schon so ein bisschen dieses, “Du hast einfach als Kind zu viel Zucker gegessen”, dieses Vorurteil gehalten und das musste ich dann erstmal aufklären aber mittlerweile ja, gehe ich damit auch sehr offen um und ich glaube, das hilft mir selber. Ich möchte auch, dass alle Leute, die Fragen stellen, die sie haben dazu und denen halt dann eben möglichst viel Auskunft geben.  

Mario D. Richardt: Du bist offen dafür? 

Anne Jentzsch: Genau.  

Mario D. Richardt: Wie ist momentan so Dein Tagesablauf? Also Du hast wahrscheinlich eine Insulinpumpe, oder?  

Anne Jentzsch: Genau, also ich habe dann vor sechs Jahren mittlerweile eine Insulinpumpe bekommen. Dann musste ich mir quasi nicht mehr jeden Tag fünfmal unter die Haut piksen und mir das Insulin injizieren, sondern habe eben quasi so ein Infusionsset, was ich alle zwei Tage wechsle, und da kann ich mir eben über meine Insulinpumpe das Insulin direkt geben und die berechnet auch sehr viel selber, also das ist vergleichsweise einfach.  

Mario D. Richardt: Hat sich alles schon gut weiterentwickelt? Welche Einschränkungen hast Du so in Deinem Leben?  

Anne Jentzsch: Also zum einen, diese Unterzuckerung, das ist halt schon immer noch was, womit ich zu kämpfen habe. Also es gibt halt Tage, an denen geht es ganz schön auf und ab mit meinem Blutzucker. Ich merke es halt besonders, wenn ich unterzuckere, dass ich dann halt schwitze oder zittere und nicht mehr klar denken kann. Dann nehme ich ganz schnell irgendwie ganz viel Traubenzucker oder Saft oder was auf und dann passiert es aber häufig, dass dann erst mal der Blutzucker sich genau in die andere Richtung entwickelt und überschießend hoch wird erstmal. Und dann ist es bei mir immer so, dass ich dann müder werde und mich auch nicht mehr so konzentrieren kann. Das sind halt manchmal Tage, also das ist Gott sei Dank selten, vor allem aber auch, wenn ich sowieso krank schon bin, oder ja, sich so eine Krankheit ankündigt, an denen ich dann halt Probleme damit habe.  

Mario D. Richardt: Hast Du da immer Traubenzucker in der Tasche dafür?  

Anne Jentzsch: Ja genau und Müsliriegel meistens auch.  

Mario D. Richardt: Wie hat sich denn für Dich der Lebensstil verändert? Also hast Du jetzt grundsätzlich noch was verändert? Isst Du jetzt nur noch Salat oder darfst Du jetzt auch ja, Bananen ja wahrscheinlich nicht, oder? Aber gönnst Du Dir auch mal ein paar Trauben oder so?  

Anne Jentzsch: Ja, definitiv, also da muss ich halt alles berechnen und vor allem diese ganz kurzkettigen Kohlenhydrate.  

Mario D. Richardt: Weißbrot zum Beispiel? 

Anne Jentzsch: Genau, Weißbrot, Weintrauben, Banane irgendwie, also so dieser direkte Zucker quasi, den spare ich mir meistens wirklich für die Hypos, also für die Hypoglykämien, für die Unterzuckerungen, auf. Sonst versuche ich halt mich auch wirklich möglichst gesund zu ernähren. Ich ernähre mich auch vegetarisch, das ist einfach meine eigene ethische Ansicht, aber eigentlich kann ich alles essen. Ich kann Kuchen essen, wenn ich das möchte, ich muss es dann halt nur spritzen. Also ich muss mir die Kohlenhydrateinheiten berechnen und das aber nur eingeben und dann macht meine Insulinpumpe alles selbst.  

Mario D. Richardt: Das kannst Du also berechnen, wie machst Du das? Also stelle ich mir das anstrengend vor. Da liegt jetzt ein Stück Kuchen vor Dir und Du schätzt ihn ab, das sind 200 Gramm und dann tippst Du dann ein paar Zahlen ein, oder?  

Anne Jentzsch: Genau, genauso ungefähr läuft das. Also man entwickelt da einfach ein Gefühl dafür, wie viele, also wie viel Gramm Zucker, da ungefähr drin sind. Es ist natürlich cool, bei schon fertig abgepackten Sachen, wenn das hinten draufsteht. Also da gucke ich dann natürlich auch drauf und genau, dann gebe ich die Anzahl der Kohlenhydrateinheiten quasi ein und dann wird das multipliziert, mit meinem Faktor, mit meinem Bolusfaktor in dem Sinne, und das Insulin wird abgegeben. Und dann ist es ja Gott sei Dank mittlerweile auch mit meinem Blutzuckersensor verbunden, der halt direkt meine Gewebsglukose misst. Den habe ich im Oberarm und der meldet dann auch an die Pumpe direkt, in so einem Closed-Loop-System, zurück, wie mein Zucker gerade generell ist. Und die kann sich dann da auch ein bisschen drauf einstellen, die kann sich mittlerweile auch abschalten, wenn er ganz, ganz doll sinkt oder sogar ein bisschen mehr Insulin geben, wenn er gerade sehr doll steigt.  

Mario D. Richardt: Ist es dann mittlerweile auch schon mit dem Smartphone verbunden, dass Du da direkt was sehen kannst?  

Anne Jentzsch: Ja, tatsächlich ist es auch mit meinem Smartphone verbunden und ich kann sogar meine Freunde oder auch meine Familienmitglieder, wenn ich das will, einladen, dass die auch immer meinen Blutzucker sehen würden. Aber das ist mir ein bisschen zu viel Überwachung.  

Mario D. Richardt: Wie oft gehst Du denn noch zu Deiner Ärztin?  

Anne Jentzsch: Genau, also ich habe einmal im Quartal ein Termin, das ist einmal alle drei Monate ungefähr, und wenn alles gut läuft, dann reicht auch der eine Termin. Dann habe ich außerdem noch Augenarzttermine, also als Vorsorgetermine. Einmal im Jahr muss ich dahin und das ist es, glaube ich, gerade.  

Mario D. Richardt: Hast Du Angst davor, dass es Begleiterkrankungen gibt?  

Anne Jentzsch: Also ich mache mir schon ein bisschen Sorgen. Ich meine, mittlerweile habe ich den Diabetes seit acht Jahren. Ich achte sehr darauf, dass mein Blutzucker relativ gut ist, konstant ist, dass ich halt einen guten HbA1c habe, also dass dieser Langzeitblutzucker, vor allem, weil ich ja in die medizinische Richtung gehe und auch hier in der Praxis, in der ich gerade bin, dann halt auch Diabetiker sehe, die das schon seit 15, 20 Jahren und noch länger haben und die teilweise halt auch nicht so gut eingestellte Zucker haben und die entsprechend schon beispielsweise einen diabetischen Fuß oder Sehprobleme haben. Da bin ich dann auch immer wieder so ein bisschen mehr gewarnt und gebe mir dann besonders viel Mühe, ja.  

Mario D. Richardt: Was möchtest Du denn anderen sagen, die vielleicht jetzt erst mit der Diagnose Diabetes Typ 1 diagnostiziert werden?  

Anne Jentzsch: Also am Anfang ist es halt eine große Umstellung aber es ist auf jeden Fall schaffbar und man schafft, es in seinen Alltag zu integrieren. Ich weiß nicht, ich sehe das auch gar nicht mehr bei mir als Krankheit, sondern so als Eigenschaft. Ich habe halt Diabetes, aber es ist keine Einschränkung. Ich kann immer noch total viel Sport machen, das mache ich auch sehr gerne in meiner Freizeit, spiele gerne Volleyball oder laufe ganz viel oder ich kann auch normal mit Freunden in Restaurants gehen und was essen. Es ist keine Einschränkung und vor allem halt mit der Insulinpumpe und auch mit diesen Blutzuckersensoren ist es wirklich machbar. Also es ist natürlich erstmal ein großer Einschnitt, vor allem weil man halt lernen muss, diese ganzen Essen zu berechnen und festzustellen okay, wie viel muss ich denn da jetzt theoretisch für spritzen? Aber das kriegt man dann hin. Und eben wirklich offen damit umgehen, das allen erzählen, weil, falls man doch mal stark unterzuckert, ist man schon mal auf externe Hilfe angewiesen. Dwar in meinem Fall Gott sei Dank bisher noch nicht so, aber mein Umfeld kriegt das auch mit, also mein Freund und meine engsten Freunde wissen auch, wenn ich unterzuckere und halten mir dann direkt schon mal ein Müsliriegel hin, weil sie das wirklich spüren.  

Mario D. Richardt: Also das ist wichtig, dass man das Umfeld einfach informiert?

Anne Jentzsch: Ja. Definitiv.  

Mario D. Richardt: Wie kann das Umfeld reagieren? Also wenn es dann wirklich mal zu so einem Problem kommt?  

Anne Jentzsch: Also dann ist es halt wirklich gut, wenn man noch ansprechbar ist, Traubenzucker direkt zu reichen oder halt Säfte oder so. Dann gibt es halt auch diese, die haben wir immer noch im Kühlschrank bei mir zu Hause, Glukagonspritze Die muss allerdings, wie gesagt, gekühlt werden, die kann dann auch im Notfall halt gegeben werden, allerdings nicht, wenn die Person davor Alkohol konsumiert hat. Dann wirkt es nicht. Sonst halt wirklich den Notruf wählen und dann muss dann eine Glukoselösung infundiert werden.  

Mario D. Richardt: Gibt es bei Dir aber so Abende, wo Du Dich vor den Fernseher setzt und dann gibt es ja, Nachos überbacken mit Käse und musst Du dann vorher wieder berechnen, wie viele Chips esse ich jetzt? 

Anne Jentzsch: Ja also Gott sei Dank habe ich ja mittlerweile so ein ultrakurz wirksames Insulin und da ist halt dieser Spritz-Ess-Abstand undeigentlich muss man den nicht mehr groß einhalten. Also da kann man wirklich sagen, okay, ich sitze jetzt davor, wie viel ist das ungefähr, ich spritze das jetzt und dann esse ich los. Ja, es stimmt schon, man ist trotzdem so ein bisschen dann daran gebunden. Wenn ich das davor mache, okay, wie viel werde ich ungefähr essen, aber da gewöhnt man sich dann auch dran, dass man das halt gut einschätzt und im Notfall noch mal einen Schluck Saft trinkt, wenn es nicht reichen sollte.  

Mario D. Richardt: Anne, ich danke Dir für Deine offenen Worte, alles Gute für Dich.  

Anne Jentzsch: Danke schön. Es hat Spaß gemacht.  

Mario D. Richardt: Mir auch, danke und Ihnen danke schön fürs Zuhören, alles Gute, bleiben Sie gesund, tschüss.